Richtiger Pass, falsches Aussehen
Wut und Schmerz als Literatur: Shida Bazyar schildert in »Drei Kameradinnen« Sehnsucht, Angst und Paradoxien im Alltag dreier Frauen of Color in Deutschland
Unverletzlich fühlen sie sich auf dem Dach, zwischen den Kissen aus der WG, dem Zigarettenrauch und den Großstadtgeräuschen der Straße unter ihnen, Saya, Hani und Kasih. Es ist Dienstag und der Anfang der Geschichte, oder nein, eigentlich ist es irgendwo mittendrin, denn die Geschichte fängt mit der Geburt der drei jungen Frauen an, aber mit einem Tag muss Kasihs Bericht ja beginnen. Und so erzählt die Ich-Erzählerin von dieser schicksalhaften Woche, die in einer Katastrophe enden wird.
Saya, Hani und Kasih sind alte Kindheitsfreundinnen. Inzwischen haben sie sich etwas voneinander entfernt, sind vor allem noch Kameradinnen, die sich gegenseitig empowern und unterstützen, selbst wenn sie sich nicht immer verstehen - »Drei Kameradinnen« lautet entsprechend der Titel von Shida Bazyars zweitem Roman. Wie schon ihr Debüt »Nachts ist es leise in Teheran« folgt »Drei Kameradinnen« einem konkreten zeitlichen Rahmen. Waren es in »Teheran« vier Zeitsprünge von jeweils einem Jahrzehnt, sind es hier wenige Tage, die das Panorama eines ganzen Lebens aufmachen.
Ansprache an die Leser*innen
Die drei Kameradinnen kennen sich, seit sie der Zufall zu Nachbarinnen in einer Siedlung am Rande einer westdeutschen Kleinstadt machte. Die Stadt wird nicht benannt, ebenso wenig wie die Herkunftsländer ihrer Familien. »Ich sage euch dazu nichts. Da müsst ihr durch«, lautet Kasihs spöttischer Kommentar, die in einer Nacht diese Geschichte niederschreibt. Welcher Art der sogenannte Migrationshintergrund der Protagonistinnen ist, spielt keine Rolle; relevant ist die Neurose der weißdeutschen Dominanzkultur, Aussehen und Namen von Kasih, Saya und Hani bewerten zu müssen, wie die Ich-Erzählerin dadurch verdeutlicht, indem sie ebendiese Informationen zurückhält. Kasih nimmt die Leser*innen in Verantwortung, spricht sie direkt an, mal wütend, oft ironisch: »Ihr wisst um unsere Gepflogenheiten, ihr wisst, dass wir uns nur aufspielen, dass wir hyperkorrekt und völlig humorlos sind.«
Kasih und Hani leben in einer Großstadt, die ebenfalls namenlos bleibt, aber relativ eindeutig als Berlin identifizierbar ist, Saya ist für einige Tage in der Stadt, weil die drei auf die Hochzeit einer Bekannten eingeladen sind. Saya, so erfahren wir aus einem Zeitungsartikel, der dem Roman vorangestellt ist, habe unter »Allahu Akbar«-Rufen am Ende dieser schicksalhaften Woche einen Terroranschlag verübt. Dass Kasih die Erwartungshaltung der Leser*innen untergräbt, indem sie als unzuverlässige Erzählerin die Realität der Binnengeschichte manipuliert, wird schnell deutlich, sie thematisiert das im Laufe des Romans auch. »Seid froh, dass ihr nur meine Version kennt«, sagt sie über Sayas vermeintlichen Anschlag. Zunächst beginnt die Woche aber eher fröhlich, vom Chillen auf dem WG-Dach ziehen Kasih, Hani und Saya weiter auf Partys. Doch mit dem Wissen, dass die Woche in einer Katastrophe enden wird, fragt sich Kasih immer und immer wieder, was der Auslöser war, der bei Saya das Fass zum Überlaufen brachte - die Diskussion mit dem weißen Linken, der von der Notwendigkeit, mit Rechten zu reden, überzeugt ist, oder vielleicht das fehlende WLAN in der WG, was Saya davon abhielt, eine Serie zu streamen und sich dadurch abzulenken?
Der richtige Pass
Wirklich spannend an »Drei Kameradinnen« ist aber nicht nur die Abwärtsspirale, die Bazyars Figuren erleben, sondern die Vielschichtigkeit ihrer Erfahrungen, die blinden Flecken, die selbst Saya hat, sonst so sensibel, wenn es um Rassismus und soziale Ungleichheiten geht. Etwa als die Freundinnen die Hochzeit ihrer Bekannten besuchen und Hani klar wird, dass diese die Ehe eingeht, damit ihr Mann im Land bleiben kann. Hani ist anders als Kasih und Saya weiß und wird deswegen als Deutsche wahrgenommen. Aber sie ist die Einzige, die nicht in Deutschland geboren wurde und sich deswegen der Privilegien des richtigen Passes bewusst ist. Sie stellt sich vor, wie sie Saya die Situation erläutert, und die Ratlosigkeit, »die daraufhin in Sayas Blick liegen würde und die wir sonst nur von weißen Menschen kannten, die zum ersten Mal davon erfuhren, dass sie weiß sind und deswegen Vorteile genießen […] Sayas Gesicht wäre das einer Person, die wusste, dass sie es im Leben gut getroffen hatte, diese Tatsache jedoch vergessen hat. Denn mit ihrem deutschen Pass war es für sie bisher leicht gewesen«. Selbst Sayas Wokeness hat ihre Grenzen.
Shida Bazyars Roman ist voller Wut und Schmerz, eine Wut, die so vielfältig wie berechtigt ist. Ob es um die Eckkneipe geht, die Weißdeutsche als »urig« und »authentisch« bezeichnen, in der BPoC aber nicht gerne gesehen sind, um Linke, die ihre eigenen Privilegien nicht reflektieren, oder um die stark an den NSU erinnernde Nazigruppe, deren Gerichtsprozess Saya fast manisch verfolgt. »Drei Kameradinnen« bleibt vielschichtig. Indem die Autorin Sayas blinde Flecken thematisiert und es sogar wagt, eine Parallele im Aufwachsen von Kasih, Saya und Hana und den Nazis der Terrorgruppe zu ziehen, verweigert sich der Roman zu eindimensionalen Anklagen. Nicht zuletzt brilliert »Drei Kameradinnen« mit der Komplexität seiner Geschichte und Figuren, hinsichtlich der Sprache und Motive und vor allem durch das Spiel mit Wahrheit und Schein. Selten wurde Wut so gekonnt literarisch verarbeitet. Was für eine Wucht!
Shida Bazyar: Drei Kameradinnen. Kiepenheuer & Witsch, 352 S., geb., 22 €.
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