Frauen wollen Repräsentation

Am Sonntag wird in Vietnam die Nationalversammlung gewählt

  • Julia Behrens, Hanoi
  • Lesedauer: 4 Min.

Alle Mobiltelefone mit vietnamesischem Anschluss klingelten in der vergangenen Woche mehrmals fast zeitgleich. Grund dafür waren Textnachrichten des Wahlkomitees zur vietnamesischen Nationalversammlung und den regionalen und lokalen Volksvertretungen für die Legislaturperiode 2021-2026. In den Nachrichten rief das Komitee dazu auf, am 23. Mai eine weise Entscheidung bei der Wahl zu treffen und den Kandidierenden eine Stimme zu geben, die tugendhaft, talentiert und des Amtes würdig seien.

Dabei ist die Auswahl an Kandidierenden im Ein-Parteien-System Vietnams bereits im Vorfeld beschränkt. Auf 500 Sitze der Nationalversammlung kandidieren regional verteilt 863 Personen. Davon sind 72 von Partei- oder parteinahen Organisationen nominiert, 665 von lokalen Parteiorganisation. Alle Kandidierenden unterlaufen einem Überprüfungsprozess und müssen von einer Massenorganisation der Kommunistischen Partei als geeignet bestätigt werden. Nur acht Prozent der Kandierenden sind keine Parteimitglieder und neun Personen haben sich selbst aufgestellt, das heißt ohne Vorschlag der Partei.

Eine dieser neun Personen ist Luong The Huy. Der 33-Jährige ist Direktor des Instituts für Gesellschafts-, Wirtschafts- und Umweltstudien. Er kandidiert in Hanoi, um jegliche Diskriminierungsformen durch Gesetzgebung einzuschränken: »Ich kann mehr erreichen, wenn ich direkt in der Nationalversammlung arbeite, dann kann ich besser mobilisieren«. Seine Erfolgschancen schätzt er als gleichwertig mit denen anderer Kandidierenden ein, denn »der Großteil der vietnamesischen Bevölkerung ist ja auch kein Parteimitglied«. Er wäre der erste offen schwule Abgeordnete der Nationalversammlung.

Repräsentation und Diversität im Parlament ist im Vorfeld der Wahlen ein viel diskutiertes Thema, vor allem wenn es um den Anteil weiblicher Abgeordneter geht. In der auslaufenden Legislatur waren knapp 27 Prozent der Abgeordneten in der Nationalversammlung Frauen. Das politische Ziel ist, diesen Anteil bis 2030 auf 35 Prozent zu erhöhen. Bereits um die 45 Prozent der Kandidierenden sind Frauen. Warum ist dann der weibliche Anteil der Abgeordneten immer noch so gering?

Auf einer Konferenz zur Rolle von weiblichen Delegierten der Nationalen Universität Vietnam sowie der Uno wurden kurz vor der Wahl die Hürden diskutiert, den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen. Pham Thi Minh Hien, Abgeordnete in der 14. Legislaturperiode, sieht den gesellschaftlichen Druck als Hauptgrund. Frauen würden unter dem Druck der traditionellen Geschlechterrollen zu schnell nachgeben, statt dagegen anzukämpfen - sie hätten die Vorurteile internalisiert. Duong Kim Anh, Vize-Rektorin der Vietnam-Frauen-Akademie, sieht deshalb Hauptaufgabe darin, das Selbstbewusstsein von Frauen zu stärken und das Verständnis aller zu erhöhen, dass Frauen fähig und talentiert seien für politische Ämter seien.

Spricht man mit Wahlberechtigten, so ist das Interesse an der Wahl eher gering. Manche gehen wählen, weil sie es als ihre Bürgerpflicht sehen; viele sehen keine Auswirkungen oder mögliche Veränderungen aufgrund der eingeschränkten Kandidaturen, sie fühlen sich nicht repräsentiert. Eine Wählerin, die nicht namentlich genannt werden möchte, sieht das Problem der geringeren Repräsentation von Frauen im Parlament als Symptom eines größeren gesellschaftlichen Problems. Da Frauen sowohl arbeiten als sich meistens auch um die Familie kümmern müssten, blieben weder Zeit noch Nerven für Politik.

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Nguyen Phuong Anh, eine wahlberechtigte Hanoierin, würde wählen, wenn sie für Luong The Huy stimmen könnte, er tritt jedoch nicht in ihrem Wahlbezirk an. »Ich gehe also nicht selbst wählen, da meine Stimme eh keinen Unterschied macht. Mein Vater wählt für mich«. In Vietnam kann man sein Stimmrecht auf eine andere Person übertragen. So kann es passieren, dass der männliche Haushaltsvorstand für die gesamte Familie wählen geht. Phuong Anh ist sich nicht sicher, ob ihr Vater ihrem Wunsch nachgeht, ihr Kreuz zumindest bei einer weiblichen Kandidatin zu setzen. Wer als tugendhaft, talentiert und würdig angesehen wird, wird weiterhin von traditionellen Geschlechterrollen und Vorurteilen bestimmt.

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