Gewalt löst keine Widersprüche

Michael Lüders über die jüngste Eskalation zwischen Israel und Gaza, fatale Nibelungentreue und was ein Weltethos bewirken würde

Nach elf Tagen Krieg ist zwischen der Hamas in Gaza und der israelischen Regierung eine Waffenruhe vereinbart. Ein scheinbar banaler Konflikt war Auslöser der Kämpfe. Zur Rückschau: Am 10. Mai, am letzten Tag von Ramadan, räumten israelische Soldaten den Platz vor dem Damaskus-Tor in Altjerusalem und sperrten die Al-Aksa Moschee ab. Ausreichender Grund für einen Militärschlag?

Es sind mehrere Konflikte zusammengekommen, die nur weitere Glieder in der langen Kette von Demütigungen sind, die den Palästinensern von der israelischen Politik seit langem zugefügt werden: zum einen, die von Ihnen genannten, zum anderen drohten den palästinensischen Bewohnern im arabischen Stadtviertel Scheich Dscharrah von Ostjerusalem Zwangsräumungen durch Ansprüche, die von jüdischen nationalistischen Siedlervereinigungen, Nachalat Schimon und Otzma Jehudit, auf dortige Grundstücke erhoben wurden. Hinzu kam die Absage der Parlamentswahlen in Palästina durch Präsident Mahmud Abbas, die für Unmut unter den Palästinensern sorgte. Und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu schließlich weiß, dass eine Konfliktlage seine Siegeschancen bei den nunmehr abzusehenden fünften Parlamentswahlen in zweieinhalb Jahren in Israel erhöht.

Interview

Michael Lüders, promovierter Islamwissenschaftler und Publizist, Jahrgang 1959, fordert eine grundsätzliche Neuausrichtung der internationalen Politik auf völkerrechtlicher Grundlage, um den Menschen in Nahost ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Er hofft, dass die Waffenruhe zwischen Israel und Gaza hält, ist aber überzeugt, dass dieser keine Lösung des Konflikts ist.

In seinem neuen Buch »Die scheinheilige Supermacht. Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen« (C.H. Beck, 293 S., br., 16,95 €) appelliert er an die europäische Diplomatie. Mit dem in Berlin lebenden Nahost-Experten sprach Karlen Vesper.

Hat Netanjahu, der unter Korruptionsanklage steht, den Konflikt bewusst herbeigeführt, um von seiner persönlich misslichen Lage und innenpolitischen Problemen abzulenken?

Soweit würde ich nicht gehen. Ich vermute aber, dass Netanjahu, der mit allen politischen Wassern gewaschen ist, sogleich erkannt hat, dass die Situation explosiv werden kann, was sie ja auch wurde, und er sich dann der israelischen Öffentlichkeit als »Krisenmanager« und Entscheider präsentieren kann, der die Sicherheit Israels garantiert. In der Öffentlichkeit kommt das gut an.

Wie aber konnte es passieren konnte, dass die Unruhen in Ostjerusalem auf den Gaza-Streifen übersprangen?

Vor allem deswegen, weil die Hamas sich gewissermaßen als Fürsprecherin der dort bedrängten Palästinenser und der gestürmten Al-Aksa Moschee sieht und glaubte, Israel ein Ultimatum setzen zu können. Die israelischen Soldaten und Sicherheitskräfte sollten sich zurückziehen und die jüdischen Israelis auf den Stadtteil Scheich Dscharrah verzichten. Darauf hat sich die Regierung in Tel Aviv nicht eingelassen.

Befördert wurde der gewaltsame Konflikt auch durch die schwierigen Lebensumstände im Gaza-Streifen, wo zwei Millionen Menschen auf einem Gebiet zusammengepfercht leben, das der Größe von Bremen entspricht und nach Angaben der Vereinten Nationen eigentlich gar nicht mehr bewohnbar ist. 95 Prozent der dortigen Wasserressourcen sind für die menschliche Konsumtion gar nicht geeignet. Die jüngsten israelischen Bombardements haben zu weiteren massiven Zerstörungen der Infrastruktur geführt. Hochhäuser wurden in Schutt und Asche gelegt, darunter auch ein Bürogebäude, das von ausländischen Medien genutzt wurde, sowie das einzige Covid-19-Zentrum, wo sowohl geimpft wurde als auch Kranke behandelt wurden. Das galt als klare Ansage der israelischen Regierung an die Palästinenser: Wir sind die Stärkeren.

Musste die israelische Regierung nicht ein Auseinanderbrechen der israelischen Gesellschaft befürchten? 20 Prozent der Israelis sind arabisch-palästinensischer Herkunft. Ihr Anteil an den im israelischen Gesundheitssystem Beschäftigten soll auch inzwischen 20 Prozent ausmachen, die man gerade in Pandemie-Zeiten nicht verprellen sollte.

In der Tat sind bei den jüngsten Auseinandersetzungen erstmals in Israel selbst Juden und Palästinenser an verschiedenen Orten aufeinander losgegangen. Auch und vor allem deswegen, weil Palästinenser mit israelischem Pass Bürger zweiter Klasse sind, zahlreiche Berufe nicht ausüben dürfen und auch nicht notwendigerweise die Möglichkeit haben, überall dort Wohnungen zu erwerben oder Mietverträge abzuschließen, wo sie gerne leben möchten. Die Diskriminierung findet inoffiziell statt. So hat beispielsweise jeder, der nicht in der israelischen Armee gedient hat, Schwierigkeiten, ein Darlehen für einen Hauskauf zu erlangen. Israelischen Palästinensern ist in der Regel der Militärdienst verwehrt, wie ihnen generell bestimmte Berufszweige aus Sicherheitsgründen verweigert werden.

Die rechtskonservativ dominierte israelische Politik strebt keineswegs Gleichberechtigung zwischen Juden und Palästinensern an. Und diese Politik der Ausgrenzung der Palästinenser bis hin zur offenen Unterdrückung im Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza erklärt, warum verschiedene Menschenrechtsorganisationen, israelische und nichtisraelische, den Staat Israel als einen Apartheidstaat kritisieren.

Ein Begriff, den viele in Deutschland in Bezug auf Israel strikt ablehnen.

In Deutschland leben mittlerweile 15 000 Israelis, in Berlin allein über 5000. Sie sind überwiegend deswegen hierher gezogen, weil sie mit der rechtskonservativen Politik Netanjahus nicht einverstanden sind und den Eindruck gewonnen haben, dass sich die Dinge auch künftig nicht zum Besseren ändern werden. Es gibt insbesondere in den USA und Großbritannien starke jüdische Minderheiten, die sich gegen den Mainstream richten und ganz klar sagen, dass Netanjahus Politik nicht in ihrem Namen erfolge.

Die Deutschen haben natürlich auf Grund ihrer Vergangenheit, den Mord an sechs Millionen Juden, große Vorbehalte, israelische Politik zu kritisieren. Nichtsdestotrotz sollten internationale Rechtsnormen für alle gelten. Und die Inbesitznahme von Gebieten im Westjordanland oder von bestimmten Vierteln in Ostjerusalem ist eindeutig völkerrechtswidrig. Dagegen hat sich die europäische Union, hat sich die Bundesrepublik nie eindeutig positioniert. Es gibt eigentlich keine grundlegende Kritik am israelischen Vorgehen. Das ist ein schweres Versäumnis. Man kann ja durchaus die Dinge differenziert betrachten, den Raketenbeschuss der Hamas verurteilen - aber was hindert beispielsweise den deutschen Außenminister daran, ebenso klare Worte hinsichtlich der israelischen Bombenangriffe und des Leids der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen zu finden?

Ist das Bekenntnis der Kanzlerin Angela Merkel 2008, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, zu apodiktisch?

Ich denke, dass die deutsche Außenpolitik sich ihrer Möglichkeiten beraubt, wenn sie sich so einseitig zugunsten einer rechtskonservativen Regierung wie die von Netanjahu positioniert. Vor allem Deutschland hat, wie gesagt, gute Gründe, sich Israel solidarisch verbunden zu fühlen. Das sollte aber nicht dazu führen, großzügig über Völkerrechtsverstöße hinwegzusehen. Das geschieht andernorts ja auch nicht. Und Israel ist keine Art Albanien im Nahen Osten, in seiner Existenz nicht unmittelbar bedroht. Vielmehr ist der jüdische Staat die stärkste Militärmacht zwischen dem Atlantik im Westen und Indien im Osten, Atommacht obendrein und bekommt allein aus den USA eine militärische Unterstützung von 3,8 Milliarden Dollar jährlich. Israel ist ein hochgerüsteter Staat, der sich immer mehr in Richtung eines Ultranationalkonservatismus bewegt, der für die Palästinenser keinen Raum mehr lässt.

Auch nicht mehr für die Zwei-Staaten-Lösung?

Die westliche Idee einer Zwei-Staaten-Lösung ist zunehmend zum Hirngespinst verkommen. Wo soll denn noch ein palästinensischer Staat entstehen, wenn sich die israelische Seite kontinuierlich palästinensisches Land aneignet? Die israelische Siedlungspolitik hat in den letzten Jahrzehnten das Westjordanland und Ostjerusalem systematisch, gezielt und vorsätzlich dermaßen zerteilt, dass ein lebensfähiger, unabhängiger palästinensischer Staat beim besten Willen nicht mehr entstehen kann.

War die Zwei-Staaten-Lösung von Anfang an eine Totgeburt?

Paradoxerweise begann nach dem Friedensvertrag von Oslo 1993 die größte Siedlungsaktivität seit Beginn der Besatzung 1967, die im Westjordanland bis heute unbeirrt fortgeführt wird. Weshalb selbst nicht wenige Palästinenser laut darüber nachzudenken beginnen, nicht länger einen eigenen Staat zu fordern, sondern ein Teil zu werden der israelischen Gesellschaft und des Staates Israel - als vollwertige Bürger. Um dem jedoch vorzubeugen, ist in Israel vor zwei Jahren das Nationalitätengesetz verabschiedet worden. Darin wird festgehalten, dass sich Israel allein als jüdischen Staat versteht und Nichtjuden nicht die gleichen Rechte wie Juden erhalten können. Darin spiegelt sich ein grundlegendes Dilemma der israelischen Politik: Will man ein jüdischer Staat sein oder ein demokratischer? Eine Demokratie, die sich allein religiös oder ethnisch versteht, kann auf Dauer keine Demokratie sein. Eine demokratische Ordnung setzt voraus, dass alle Menschen über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen. Mit Gewalt ist dieser Widerspruch nicht zu lösen.

Was muss geschehen?

Es muss diplomatischen und politischen Druck geben. Solange die israelische Regierung sicher sein kann, dass es diesen aus den westlichen Hauptstädten nicht gibt, erst recht keine Sanktionsandrohungen wie gegenüber anderen Staaten in der Vergangenheit oder Gegenwart zu erwarten sind, wird sich nichts ändern. Und die israelische Politik der Landnahme wird fortgesetzt.

Das demografische Moment ist aber nicht zu unterschätzen. Es leben heute schon mehr Nichtjuden als Juden zwischen Mittelmeer und Jordanfluss. Das bedeutet, dass jetzt schon eine Minderheit über eine Mehrheit herrscht. Dieses politische Modell ist im vorigen Jahrhundert in Südafrika gescheitert. Ich sehe nicht, dass es in diesem Jahrhundert im Nahen Osten funktionieren wird.

Warum sollten eigentlich gerade die Bundesrepublik oder die EU als Vermittler im jüngsten Gewaltkonflikt auftreten?

Es gab dergleichen Appelle, allerdings blieben sie folgenlos. Aus israelischer Perspektive sind europäische Vermittler oder Unterhändler angenehme Partner - in der Regel sind sie zahnlose Tiger, die nichts gegen den Willen der USA unternehmen, sich deren Vorstellungen unterordnen. Washington sieht in Israel seinen wichtigsten Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten. Und an dieser engen Zusammenarbeit, geostrategisch und innenpolitisch begründet, wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Die Administration unter Joe Biden wird den provokant pro-israelischen Kurs der Regierung Trump nicht fortsetzen, denkt aber nicht daran, den unter Trump beschlossenen Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem rückgängig zu machen.

Hat Trumps Erbe den Konflikt verschärft?

Seine Entscheidungen, darunter auch die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion Ostjerusalems 2017, hat die Spannungen noch weiter angeheizt und das Gefühl der Auswegslosigkeit auf palästinensischer Seite verstärkt. Einmal mehr mussten die Palästinenser erfahren, dass die USA weit davon entfernt sind, als ehrlicher Makler aufzutreten und einen Kompromiss herbeizuführen. Amerikaner wie Israelis schaffen Fakten, und den Preis zahlen die Palästinenser. Es steht zu befürchten, dass es trotz der Waffenruhe im Gaza-Streifen jederzeit erneut zu Explosionen der Gewalt kommen kann, solange es keine politische Lösung gibt.

Die arabischen Staaten, mit denen Israel jüngst Verträge abgeschlossen hat, hielten sich im Konflikt just zurück.

Die Regierungen in Bahrain, den Vereinigten Arabischen Emiraten, von Marokko und Sudan haben mit Blick auf ihre eigenen Interessen und und nicht zuletzt infolge von US-Druck Friedensverträge mit Israel geschlossen, die Gefühle in den jeweiligen Bevölkerungen sind allerdings ganz andere.

»Wir alle sind Gaza«, war vielerorts zu hören und zu lesen.

Darauf müssen die Regierungen zwar Rücksicht nehmen. Aber im Grundsatz haben die Machthaber faktisch aller arabischen Staaten sich längst von der Palästina-Frage verabschiedet. Sie sehen für sich mehr Vorteile darin, mit Israel und den USA zu kooperieren, und sei es indirekt.

Wie sollte sich Deutschland im Nahostkonflikt positionieren?

Ich wünsche mir, dass sich die deutsche Politik grundsätzlich neu ausrichtet. Solidarität mit Israel zu zeigen ist wichtig, die bisherige sehr ostentative Umarmung der dortigen ultranationalistischen Politik halte ich aber für sehr fragwürdig, Heiko Maas ist nach Jerusalem gereist und erklärte den uneingeschränkten Beistand Deutschlands für Israel, den Palästinensern dagegen versprach er humanitäre Hilfe. Das ist eine sehr zweigeteilte Wahrnehmung: Parteiergreifung hier, Brosamen dort.

Die deutsche Außenpolitik wie auch die der Europäischen Union müssen sich aus der transatlantischen Nibelungentreue lösen. Darüber hinaus brauchen wir eine Neuauflage internationaler Rechtsnormen, die für alle Staaten gültig sind - auch für Israel und die USA. Biden wird, wie seine Vorgänger, Militär und Geheimdienste weltweit einsetzen, nötigenfalls Kriege führen zur Wahrung der US-amerikanischen Vormachtstellung. Dem übergroßen Einfluss des »militärisch-industriellen Komplexes« wird er ebenso wie der fortschreitenden Oligarchisierung US-amerikanischer Politik nicht entgegenwirken oder etwas entgegensetzen können. Er wird gegenüber Russland und China ebenso wenig auf Entspannung setzen wie die Präsidenten vor ihm. Europäische und deutsche Transatlantiker haben jedoch ihre Rolle als Juniorpartner so sehr verinnerlicht, dass sie nur selten darüber nachdenken, ob die Richtungsvorgaben des Bündnispartners tatsächlich auch hiesigen Interessen dienen. Und dazu gehört, wie wir an den Protesten auch in deutschen Städten in der vergangenen Woche erlebt haben, eine Lösung des Nahostkonflikts.

Lesen Sie auch: Zwei-Staaten-Lösung nicht realistisch - Der israelische Historiker Ilan Pappé gilt als scharfer Kritiker der Siedlungspolitik.

In Ihrem neuen Buch erwähnen Sie ein Projekt »Weltethos«. Was ist darunter zu verstehen?

Erstens, jeder Mensch soll menschlich behandelt werden und entsprechend dem Kantschen Imperativ: Behandle andere so, wie du selbst von ihnen behandelt werden möchtest. Zweitens, es sollten vier Selbstverpflichtungen für alle gelten. Und das wären eine Kultur der Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor allem Leben; Solidarität und gerechte Wirtschaftsordnung; Toleranz und Wahrhaftigkeit sowie Gleichberechtigung in allen Sphären. Das Projekt »Weltethos« erfuhr in den 1990er Jahren große Resonanz. Man wünschte sich eine Rückbesinnung.

Weil diese eine Richtungsänderung bewirken, Frieden bescheren würde?

Ja, vielleicht. Es wäre jedenfalls schön, wenn es gelänge, diesem unter der Federführung des kürzlich verstorbenen Tübinger Theologen Hans Küng erarbeiteten Projekt zur gewaltfreien Lösung von globalen Konflikten interkonfessionell und unter Schirmherrschaft der UNO in der internationalen Politik Gewichtung zu verleihen. Aber es sieht nicht danach aus. Im Augenblick stehen überall die Zeichen eher auf Konfrontation, so zwischen dem Westen einerseits sowie Russland und China andererseits, von der Arktis bis in den indo-pazifischen Raum. Der Geist der 70er Jahre, als Willy Brandt und Egon Bahr auf eine Politik der Entspannung gen Ost und Nord-Süd-Dialog setzten, scheint tot. Leider.

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