- Kultur
- Jazz
Hypnotisch, fließend, warm
Der Kampf um die Zukunft des Jazz geht weiter: Das war das 50. Moers Festival
Dass Festivals auch ohne Publikum vor der Bühne auskommen können, ist - wer weiß, wie lange noch - der trübe Normal- im Ausnahmezustand. Dass es auf dem Moers Festival - schon das zweite im Zeichen von Corona - Open-Air-Konzerte mit Zuschauern geben könnte, war deshalb noch wenige Tage vor dem Pfingstwochenende ganz und gar ungewiss. Es wäre allerdings auch traurig gewesen, wenn das ehrwürdige Festival ausgerechnet zum 50. Jubiläum als reine Online-Edition hätte gefeiert werden müssen.
Dank sinkender Infektionszahlen konnte Festival-Leiter Tim Isfort dann vor einer Woche das »Pfingstwunder von Moers« verkünden: Die Stadt hatte eine Reihe mit vier Konzerten am Rodelberg genehmigt - vor jeweils maximal 500 Menschen. Zu sehen gab es dort unter dem Titel »Freeluft Freijazz Konzerte« Größen wie den Gitarristen John Scofield, den Saxofonisten Joe McPhee mit dem Trio Decoy, Improv-Legende Fred Frith mit einem prominent besetzten Gitarrentrio, aber auch das ugandisch-britische Projekt Nihiloxica, das wuchtige Techno-Beats mit ebenso mächtiger ostafrikanischer Percussion verbindet.
Schon anhand dieser Namen lässt sich erahnen, was das Festival in Moers in den vergangenen Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Jazzveranstaltungen gemacht hat: Enge, geradezu freundschaftliche Verbindungen zu Künstlern wie Fred Frith, der in Moers Dauergast seit 1983 ist und dort nun seine ersten Konzerte seit dem März 2020 überhaupt spielte, aber immer auch offene Ohren für Neues, das mit dem ohnehin schon etwas ausgeleierten Begriff Jazz längst nicht mehr zu fassen ist. Moers ist ein Ort für Begegnungen scheinbar disparater Ästhetiken, im besten Fall auf Augenhöhe.
Im übrigen Programm ließ sich diese Politik im Detail verfolgen - vor Ort, wie schon im vergangenen Jahr, allerdings nur von der Presse sowie den Künstlern und Technikern. Der Rest der Welt wurde per Livestream von Arte Concert versorgt. Ein Angebot, das durchaus rege wahrgenommen wurde. Rund 100 000 Aufrufe zählten die Veranstalter am Ende des Festivals.
Zwar hatte, wie Isfort am Montagmittag auf der Abschlusspressekonferenz berichtete, das diesjährige Programm kaum noch etwas mit den ursprünglichen Plänen zu tun. Von den eigentlich gebuchten 25 Musikern und Musikerinnen aus Äthiopien waren am Ende sechs gekommen, meist waren Quarantänebestimmungen der Hindernisgrund. Und noch am letzten Festivaltag musste umdisponiert werden, weil ein Musiker aus dem gerade zum Virusvariantengebiet erklärten Großbritannien nicht mehr einreisen konnte. Sie habe noch nie so hart an einem Festival gearbeitet, sagte Jeanne-Marie Varain, designierte Geschäftsführerin des Festivals und bereits seit Längerem Teil des Teams. Allen Widrigkeiten zum Trotz aber gab es zum Jubiläum ein würdiges Line-up.
So konnte wenige Tage vor dem Festival Brad Mehldau gewonnen werden, einer der wichtigsten Jazzpianisten der Gegenwart. Ferner gab es am Samstag eine Fortsetzung der im vergangenen Jahr begonnenen Beschäftigung mit dem queeren, afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman (1940-1990). Das ensemble 0 und das AUM grand ensemble aus Frankreich führten Eastmans »Femenine« auf, das auf hinreißende Weise die Strenge der Minimal Music mit Jazzimprovisation verbindet: hypnotisch, fließend, warm.
Später am Abend trafen die Künstlerinnen und Künstler von Fendika aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba auf den niederländischen Drummer und Free-Jazz-Urgestein Han Bennink - zumindest kurz. Der größere Teil des Sets der Äthiopier um den Tänzer Melaku Belay, der das Kulturzentrum Fendika leitet, war energetischen Interpretationen äthiopischer Musik und Tänze gewidmet, gespielt auf elektrisch verstärkten klassischen äthiopischen Instrumenten wie Masinko und Krar, mit Rock-Verve vorgetragen.
Laut Tim Isfort war der Auftritt von Fendika ebenso wie das Set von Nihiloxica ein Vorgeschmack auf das kommende Jahr, für das ein umfangreicher Schwerpunkt mit Künstlern aus Uganda, Äthiopien und Kongo geplant ist. Aus Kinshasa kamen in diesem Jahr C'est le Temps - C'est le Tango. Das Trio um die Percussionistin und Sängerin Huguette Tolinga bringt traditionelle Rhythmen, Fusion Jazz und das kongolesische Rumba-Erbe zusammen.
Neben interkontinentalen Begegnungen und Grenzgängen zwischen neuer Musik und experimentellem Jazz gab es in Moers aber natürlich auch das zu hören, was die Wurzeln des Moers Festivals ausmacht: Improvisierte Musik, Free Jazz und daraus abgeleitete Experimente. In den freien Flug der Ideen begaben sich unter anderem die französische Bassistin Joëlle Léandre im Duett mit dem New Yorker Schlagzeuger Gerald Cleaver, das französisch-schwedisch-amerikanische Trio [ISM] mit dem Pianisten Pat Thomas - und dann gab es noch die Moers mit Fred Frith und anderen.
Und wie stets in Moers sorgten theatrale Momente für Irritationen. Die Bühnenbildnerin Birgit Angele hatte unter anderem riesige Zotteltiere geschaffen, die in der Festivalhalle allerlei Schabernack trieben, während sich auf dem Freigelände am Rodelberg grüngewandete Wesen unters Publikum mischten.
Zwischen den Konzerten wurde über Themen wie das Verhältnis von Kunst und Politik oder Geschlechtergerechtigkeit diskutiert - ein Thema, das die Festivalmacher übrigens auch ganz praktisch umtreibt. Nicht ohne Stolz verkündete Isfort am Montag einen weiblichen Programmanteil von gut 34 Prozent: »Das fühlt sich gut an.« Wo wir schon bei Zahlen sind: Ein Festival in pandemischen Zeiten erfordert natürlich ein ausgebufftes Hygienekonzept. Künstlerinnen und Künstlerin (229 aus 22 Ländern), Publikum und Presse wurden umfänglich getestet, ausnahmslos negativ.
Alles prima also - oder? Auch wenn die Bilanz unter den doch recht speziellen Vorzeichen positiv ausfällt und auch die politischen Entscheidungsträger der Stadt Moers mittlerweile geschlossen hinter dem Festival stehen, was in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall war, gab es am Montag auch skeptische Töne zu hören. So sieht Isfort »ein großes Fragezeichen, ob das kulturelle Leben, wie wir es kannten, so zurück kommt«.
Nicht zuletzt, führte er aus, weil nicht wenige Künstlerinnen und Künstler aus der freien Szene ihren Beruf derweil an den Nagel gehängt hätten. Ein knappes Drittel sei das, schätzt Isfort. Den Kampf um die Zukunft, den sich das Festival in diesem Jahr auf die Fahne geschrieben hatte, gilt es also wohl noch ein Weilchen zu führen. Dabei helfen soll unter anderem ein neu gegründeter Förderverein.
Bis zur 51. Ausgabe feiert das Moers Festival allerdings erst mal seine ersten 50 Jahre. Mit mehreren Ausstellungen im öffentlichen Raum drückt es der Stadt Moers seinen Stempel auf, Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt senden im Wochentakt musikalische Grüße für die Festival-Homepage. Erstmals seit fast 35 Jahren gibt es mit »puls puls puls« von Jan Jelinek und Sven-Ake Johansson eine eigene Schallplattenveröffentlichung, und ein Buch hat sich das Festival zum Jubiläum auch noch geschenkt: »[re]visiting Moers Festival« erzählt auf gut 230 reich bebilderten Seiten die Geschichte dieser Institution in den Worten von Künstlern, Veranstaltern, Journalisten und Freunden des Festivals - von Peter Brötzmann über Aki Takase und Marshall Allen vom Sun Ra Arkestra bis hin zu Bill Frisell und Amina Claudine Myers.
Die Lektüre führt dabei auch noch einmal vor Augen, wie wichtig ein Festivals wie Moers ist, als Ort, an denen ästhetische Entwicklungen eben nicht nur abgebildet werden, sondern vielmehr katalysiert, wenn sie nicht sogar erst dort entstehen. Was auch Fred Frith, der mit Ava Mendoza und Oren Ambarchi am Montagabend das Finale gestaltete, im Gespräch am Rande der Veranstaltung bestätigte.
Lesen Sie auch: Fast wie Neuschwanstein. Brandenburg feiert mit dem Kulturland-Themenjahr 2021 seine Industrietradition
Moers sei eines einer Handvoll Festivals, die neue Musik möglich machen, indem sie Musikern Zeit und Raum zur Verfügung zur Verfügung stellen, um gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Um solch eine Institution zu bewahren, darf man schon einmal ein wenig Pathos auflegen und von Wundern sprechen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.