- Politik
- Russlands Sicht auf Afghanistan
Die Angst vor der altbekannten Gefahr
Russland blickt mit Sorgen auf den US-amerikanischen Abzug aus Afghanistan und will seine Interessensphäre in Zentralasien vor islamistischem Terror schützen
Russische Militärs werden die Nachricht mit einer gewissen Genugtuung vernommen haben: 20 Jahre nach den Anschlägen vom 11. September zieht US-Präsident Biden seine Truppen aus Afghanistan ab. Auch die bestens ausgerüstete US-Armee scheiterte letztlich bei dem Versuch, das bergige Land am Hindukusch zu befrieden und den Aufstieg terroristischer Gruppen zu verhindern - wie 32 Jahre zuvor bereits die Sowjets.
Doch die Freude in Moskau hält sich in Grenzen: Denn wie nach dem sowjetischen Abzug droht Afghanistan wieder in Gewalt und Chaos zu versinken. Damals hielt die vom Kreml eingesetzte Zentralregierung in Kabul nur drei Jahre durch, bis sie gestürzt und Präsident Mohammed Nadschibullah 1992 grausam ermordet wurde. Die Folge: ein blutiger Bürgerkrieg, der bis in die früheren zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion ausstrahlte und damit auch Moskauer Sicherheitsinteressen berührte. So bestand beispielsweise die tadschikisch-afghanische Grenze in den 1990er Jahren faktisch nur noch auf dem Papier. Afghanische Gotteskrieger sickerten ein und mischten im tadschikischen Bürgerkrieg (1992-1997)mit. Auch in Kirgistan und Usbekistan operierten islamistische Fundamentalisten.
Zwar sind die zentralasiatischen Staaten seit rund drei Jahrzehnten unabhängig - doch die Region ist immer noch stark mit Moskau verbunden, Hunderttausende zentralasiatische Migranten arbeiten in Russland. Moskauer Analysten befürchten daher, dass in Afghanistan radikalisierte Wanderarbeiter extremistisches Gedankengut nach Russland tragen und Anschläge verüben könnten. Auch der Drogenschmuggel aus Afghanistan wird als Bedrohung eingestuft.
Im Zentrum der russischen Sorgen stehen vor allem Usbekistan und Tadschikistan, welche eine gemeinsame Grenze mit Afghanistan verbindet. Um beide Länder zu stabilisieren, setzt Moskau nicht mehr auf Bündnislösungen - sondern ganz praktisch auf bilaterale Vereinbarungen. So kündigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu Ende April den Aufbau eines gemeinsamen Luftverteidigungssystems mit Tadschikistan an. »Angesichts der sich verschlechternden Situation in Afghanistan planen wir, mögliche Bedrohungen gemeinsam abzuwehren«, erklärte er nach Gesprächen in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Darüber hinaus will Moskau die in Tadschikistan stationierte 201. Motorschützendivision ausbauen. Diese wird zur Sicherung der 1300 Kilometer langen Grenze mit Afghanistan eingesetzt und gilt mit mehr als 7000 Soldaten bereits jetzt als größte russische Militärbasis im Ausland. Außerdem wurden drei gemeinsame Großübungen an der tadschikisch-afghanischen Grenze anberaumt. Zudem setzt Tadschikistan auf den Schutz des von Moskau dominierten Verteidigungsbündnis ODKB, in dem Duschanbe in diesem Jahr den Vorsitz führt.
Nach den Gesprächen in Duschanbe reiste Schoigu weiter nach Usbekistan. Das Land sieht den russischen Einfluss in der Region und das ODKB-Bündnis traditionell äußerst skeptisch. 2012 trat es bereits zum zweiten Mal aus dem Block aus. Umso größer war daher die Überraschung, als Schoigu in der Hauptstadt Taschkent nun das Programm einer gemeinsamen strategischen Militärpartnerschaft vorstellte. Es ist das erste Vorhaben dieser Art mit dem zentralasiatischen Staat und soll bis 2025 gelten. Bedrohungen müsse man gemeinsam begegnen, so Schoigu. »Vor allem dem internationalen Terrorismus!«
Moskau setzt jedoch nicht nur auf die Stärkung seiner zentralasiatischen Partner, sondern intensiviert auch Kontakte zu Stammesfürsten und anderen inoffiziellen Entscheidungsträgern im afghanischen Norden - zumeist ethnische Tadschiken und Usbeken. So nahm beispielsweise Atta Mohammad Noor, der Führer der tadschikischen Gemeinschaft Afghanistans, im März als wichtiger Gast an einer Moskauer Afghanistankonferenz teil. Der Grund für diese Nebendiplomatie: Der Kreml betrachtet die Zentralregierung in Kabul als schwaches Marionettenregime von amerikanischen Gnaden, welches jederzeit von den vorrückenden Taliban gestürzt werden kann. Vereinbarungen mit den afghanischen Führern aus den an die zentralasiatischen Staaten angrenzenden Provinzen gelten dem Kreml daher als verlässlicher.
Nicht gern sieht Moskau amerikanische Bemühungen, auch nach dem Abzug aus Afghanistan einen Fuß in der Region zu behalten - und Truppen in den zentralasiatischen Staaten zu stationieren. Wie Anfang April bekannt wurde, verhandelt Washington über eine Nutzung usbekischer und tadschikischer Militärbasen entlang der afghanischen Grenze. Von dort aus wollen die Amerikaner die Regierung in Kabul militärisch stützen, den Vormarsch der Taliban bremsen und gezielte Luftschläge gegen islamistische Extremisten in Afghanistan durchführen. Geben die früheren Sowjetrepubliken grünes Licht, würde sich damit eine Periode aus der Frühphase der US-Intervention wiederholen: Zu Beginn der 2000er Jahre erlaubten Usbekistan und Kirgistan Washington aus Furcht vor einem Übergreifen des islamistischen Terrors aus Afghanistan die Nutzung einiger Basen. Diese Phase endete erst 2014 mit dem Abzug der Amerikaner - unter anderem wegen zunehmenden Drucks aus Moskau.
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