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Rückkehrer mit vielen Gesichtern
Egan Bernal, Tour-de-France-Sieger von 2019, meldet sich mit dem Sieg beim Giro in der Weltspitze zurück
Auf der letzten Bergetappe des Giro d’Italia machte es der 24-Jährige wie ein ganz Alter aus der Rundfahrtbranche. Bei den Anstiegen zum Splügenpass und der Alpe Motta, den letzten beiden Gipfeln dieser 104. Italien-Rundfahrt, fuhr er kühl und abgeklärt sein eigenes Tempo. Er hielt den enteilten Zweitplatzierten Damiano Caruso an der langen Leine und gestattete ihm nie mehr als eine Minute Vorsprung. Seine Kräfte gut einteilend, kam er am Ende noch bis auf 24 Sekunden heran.
»Ich war wirklich in Sorge heute. Meine Beine waren zwar okay, und auch das Team war da. Aber als Caruso 30 oder 40 Sekunden Vorsprung hatte, schoss mir schon durch den Kopf, wie leicht es war, anderthalb Minuten zu verlieren«, bilanzierte er am Samstag die 20. Etappe. Hätte Caruso noch mehr herausgeholt, hätte Bernal beim Zeitfahren richtig Druck gehabt.
Der Kolumbianer meisterte aber auch diese brenzlige Situation. In diesem Verteidigungsmodus hatte er sich ohnehin schon in den letzten drei Bergetappen des Giro befunden. Er fuhr kontrolliert, dosierte seine Kräfte gut und ließ der Konkurrenz nur zwischen 24 und 53 Sekunden Vorsprung. Weil die Rivalen vorn aber jeweils andere waren - am Samstag Caruso, an den beiden anderen Tagen der Brite Simon Yates - brannte für den Mann in Rosa trotz offensichtlich schwindender Kräfte nichts an.
Das war ein drastisches Gegenbild zum Bernal der ersten beiden Wochen. Da wirkte er noch wie ein junger Held, der die Welt aus den Angeln heben wollte. Bereits auf den ersten kurzen, aber steilen Rampen des Giro nahm er der Konkurrenz Zeit ab und stürmte auf der 9. Etappe mit einem Tagessieg ins rosa Trikot.
In der zweiten Woche krönte er sich dann zum König des Giro. Auf der 11. Etappe nach Montalcino, die über mehrere Schotterstraßenabschnitte der Strade Bianche führte, war er der beste der Klassementfahrer, wie auch am gefürchteten Monte Zoncolan. Der gelernte Mountainbiker spielte dort gleich mehrere der in der Jugend erworbenen Qualitäten aus: Radbeherrschung und Leidensfähigkeit auch auf unbefestigten Untergründen sowie Explosivität im Bergsprint. Am Passo Giau schließlich, dem höchsten Punkt dieses Giro, fuhr Bernal nicht nur den Rivalen in der Gesamtwertung davon. Er sammelte auch alle Ausreißer ein, die sich noch auf der Strecke befunden hatten. Kurz vor dem Zielstrich entledigte er sich mit steif gefrorenen Fingern auch noch der schwarzen Regenjacke. »Ich wollte im rosa Trikot über den Zielstrich. Man gewinnt schließlich nicht jeden Tag in Rosa eine Etappe. Mir war es egal, ob ich dabei einige Sekunden verliere«, erklärte er später.
Mit dieser Geste fuhr er sich endgültig in die Herzen der italienischen Radsport-Tifosi. Schon zuvor hatten sie ihn wegen seiner intuitiven Attacken mit »Pantani, Pantani«-Rufen angefeuert. Bernal, der zwei Jahre beim italienischen Klettererteam Androni Giocattoli unter Vertrag war und mit der Heldenverehrung Pantanis bestens vertraut ist, zeigte sich gerührt. Er erzählte auch, dass das einzige Radsportbild in seinem Kinderzimmer ein Bild von, na klar, »Il Pirata« gewesen war.
In der zweiten Woche dachte man noch, dass Bernal unbesiegbar sei. Er wähnte sich wohl auch selbst in diesem Glauben. »Angriff ist die beste Verteidigung«, tönte er da. Und er sagte zwar an, dass er nicht mehr wie verrückt jedem Angriff der Konkurrenz folgen wolle. Er vermutete aber auch, dass er in der Hitze des Gefechts, bei hochschießendem Adrenalinspiegel Gefahr laufe, all die Vorsätze des konservativen Fahrens zu vergessen. Viele erwarteten also, manche befürchteten es auch, dass er in den Bergen der dritten Woche weiter Sieg an Sieg reihen würde - ganz so, als sei er der neue »Kannibale«, der Wiedergänger von Eddy Merckx, als den man ihn schon nach seinem Toursieg 2019 gesehen hatte.
Genau das war er nicht. Bernal zeigte plötzlich Schwächen. Er wirkte auf dem Anstieg nach Sega di Ala sogar stehend k.o., als Simon Yates ihn angriff. Aber er fing sich, auch dank der Hilfe seines Landsmanns und Teamkollegen Dani Martinez. Der gestikulierte und schrie wie wild. Es dürfte sich um die spanische Version des »Quäl dich, du Sau!«, gehandelt haben. Mit diesem Spruch feuerte einst Rolf Aldag Jan Ullrich an, als dem die Kräfte schwanden.
Doch Bernal meisterte auch solche Schwierigkeiten und schaltete auf den Gipfeln der letzten Woche auf den Kontrollmodus um. Er verlor Zeit gegenüber Yates und auch gegenüber dem überraschend starken Italiener Damiano Caruso. Aber er verteidigte ein Zeitpolster. Bernal, erst 24 Jahre jung, erwies sich dabei als ein sehr reifer Rennfahrer und gehört nun wieder zum Kreis der Topfahrer der Weltelite.
Aus der war er mit seinem vorzeitigen Ausstieg bei der Tour de France im vergangenen Jahr herausgefallen. Bernal war seinerzeit physisch erschöpft, mental angeschlagen und von vielen Medien schon abgeschrieben worden. Aber er bekam seine Rückenprobleme in den Griff. Und in Zukunft darf man sich auf seine Duelle mit dem noch jüngeren »Jahrhunderttalent«, Bernals Toursieger-Nachfolger aus Slowenien, Tadej Pogačar, freuen.
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