Terror fast ohne Erinnerung und Folgen

Vor 100 Jahren zerstörte rassistische Gewalt ein ganzes Schwarzenviertel im US-Bundesstaat Oklahoma

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Als sich am 2. Juni 1921 der Rauch verzog in Tulsa, zeigten Fotos, wie groß der Schaden war, den der rassistische Mob in den zwei Tagen zuvor in der Stadt im US-Bundesstaat Oklahoma angerichtet hatte. Das einzige Krankenhaus im Viertel, mehrere Kirchen und vor allem fast alle Geschäfte und Wohnhäuser im Bezirk waren nach zwei Tagen Gewalt niedergebrannt. Das Rote Kreuz zählte später 191 zerstörte Geschäfte, 1256 zerstörte Häuser.

Der Pogrom, der mit versuchter weißer Lynchjustiz begann und unter Schwarzen in den USA in den Folgejahrzehnten als »Massaker von Tulsa« bezeichnet wurde, hatte 10 000 Menschen obdachlos gemacht. Und er hatte das schwarze Geschäftsviertel der Stadt, auch »Black Wall Street« genannt, vernichtet – und damit die wirtschaftlichen Ambitionen der Gemeinde. Es war eine der schlimmsten Rassenunruhen in der US-Geschichte und wie in vielen anderen Fällen auch wird bis heute um die Erinnerung an die Ereignisse gestritten – dabei geht es auch um Wiedergutmachung.

»Ich rufe das amerikanische Volk dazu auf, sich an den schrecklichen Verlust von Menschenleben an diesen zwei Tagen 1921 zu erinnern, sich der tiefen Wurzeln des rassistischen Terrors bewusst zu werden und sich erneut der Arbeit zu verschreiben, den systemischen Rassismus überall in unserem Land an der Wurzel zu packen und zu beenden«, heißt es in einer Erklärung von Joe Biden anlässlich des 100. Jahrestag des Tulsa-Massakers. Der US-Präsident reiste am Dienstag für eine Rede und ein Treffen mit Überlebenden in die Stadt.

Die hatte erst unsichtbar gemacht, was passiert war – Lokalzeitungen schrieben 1921 von »zwei schwarzen Toten«, obwohl es laut Schätzungen von Historikern 300 Schwarze Todesopfer gab – und dann jahrzehntelang die Erinnerung verdrängt. Erst Ende der 1970er Jahre begann die Stadt, die Geschehnisse aufzuarbeiten.

Doch im Bundesstaat wissen noch immer viele nicht, was 1921 geschehen ist. Laut einer Umfrage der Zeitung »The Oklahoman« haben 83 Prozent der Befragten keine einzige Schulstunde zum Tulsa-Massaker erhalten. »Verschwörung zum Schweigen« nennen Kritiker wie der demokratische Staatssenator Kevin Mathews das. Die Verschwörung geht offenbar weiter.

Nachdem einzelne Schulbezirke Unterricht zum Thema in ihre Lehrpläne geschrieben haben, verabschiedeten die Republikaner im Staat ein Gesetz, das es Lehrern ab Juli verbietet, mit ihrem Unterricht bei Schülern »Unbehagen« oder »Schuld« wegen ihrer Rasse oder ihres Geschlechts auszulösen. Es richtet sich gegen »critical race theory«. Die kritische Rassismusforschung als vermeintliches Vehikel linker Indoktrination ist ein beliebtes Kulturkampfthema von Konservativen überall in den USA.

Vertreter dieser Forschung haben in den letzten Jahren viele für das weiße Amerika »unangenehme« Fakten ans Licht befördert. Etwa, dass das Tulsa-Massaker »kein spontaner Ausbruch des Hasses« war, sondern ein »organisierter paramilitärischer Mini-Genozid«, wie der Schwarze US-Journalist Michael Harriot schreibt. Eigentlich sei es darum gegangen, die »Weißenvorherrschaft« zu sichern beziehungsweise diese, angesichts von relativem schwarzen Wohlstand, über die afroamerikanische Enklave wieder zu erlangen.

Nach dem Auslöser-Ereignis – der 19-jährige Schwarze Schuhputzer Dick Rowland hatte angeblich eine 17-jährige Weiße sexuell belästigt, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine verbreitete Begründung für rassistische Lynchjustiz überall in den Vereinigten Staaten war, auch wenn es oft eine Falschbehauptung war – hatten sich Hunderte weiße Männer bewaffnet und in Kompanien organisiert, um das Viertel systematisch niederzubrennen. Dabei wurden laut Harriot sogar sechs Flugzeuge für Aufklärungsflüge eingesetzt.

Das Ergebnis jedenfalls: Eine wirtschaftlich erfolgreiche schwarze Gemeinde hatte ihr Vermögen verloren, zahlreiche Schwarze Geschäftsleute zogen weg, führten fortan ein Leben als Verarmte. Einige von ihnen stellten Anträge auf Schadensersatz bei Versicherungen im Wert von heute 27 Millionen Dollar, die meisten Anträge wurden abgelehnt. Kompensationen oder Reparationen für die erlittene Gewalt haben sie oder ihre Nachfahren bis heute nicht erhalten.

In seiner Tulsa-Erklärung ruft Präsident Biden auch dazu auf anzuerkennen, wie auch die US-Regierung »Schwarze Communities um Wohlstand und Möglichkeiten« gebracht habe, auch in Tulsa etwa durch den Bau von Highways durch innerstädtische Schwarzenviertel, die Verschmutzung und Wertverlust für Bewohner und Eigentümer brachten. Schon von dem im März beschlossenen Hilfspaket gegen die Coronakrise sollen besonders Schwarze Gemeinden profitieren, auch im geplanten Infrastruktur-Paket soll sichergestellt werden, dass ökonomisch benachteiligte Regionen und Minderheiten-Gemeinden bevorzugt Investitionen und Jobs durch Regierungsaufträge erhalten.

Das neue Modewort in der Biden-Administration dafür: »equity«. Verteilungsgerechtigkeit dürfe nicht mit Chancengerechtigkeit verwechselt werden, erklärte Vize-Präsidentin Kamala Harris Anfang Februar. »Chancengleichheit heißt «alle kriegen dasselbe», aber das Problem ist, nicht alle starten am gleichen Ort«.

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