- Politik
- Stadt und Land
Mit Blick auf die Kieselgärten
Wie es ist, für ein Jahr aus der Millionenmetropole Hamburg in eine niedersächsische Klein-, eher Mittelstadt zu ziehen. Chronologie eines zwölfmonatigen Missverständnisses
Am Anfang war da der mögliche neue Job meiner Freundin. Für ein Jahr sollte es für sie in eine kleine Stadt im westlichen Niedersachsen gehen, danach stünde der Umzug in die 70 Kilometer entfernte Großstadt an. Außer an einem Buch zu schreiben, hatte ich mir für das Jahr nicht viel vorgenommen, und an diesem Buch konnte ich von überall aus schreiben. Ein Jahr zwischen Ackern, so platt wie die Sprache - für ein 32-jähriges Großstadtgewächs wie ich es bin, klang das nach einer willkommenen Abwechslung.
Groß war die Freude vor dem Umzug, nahezu ungetrübt sogar, wäre da nicht die Reaktion einer Bekannten gewesen, die, als sie hörte, wohin es mich zog, bloß ein Arsenal an Schimpfworten für ihren Geburtsort übrig hatte. Sie wird wohl ihre Gründe haben, sagte ich mir und beschloss, mir selbst einen Eindruck von meiner neuen Heimat zu verschaffen.
Zugegeben, es gibt bessere Zeitpunkte, eine neue Stadt zu erkunden, als inmitten einer globalen Pandemie, doch die ersten Eindrücke waren überwiegend positiv. Die gepflanzten Palmen am Marktplatz verliehen dem Ort ein wenig mediterranen Charme. Die Ruhe in der neuen Nachbarschaft: willkommen. Die Sicht auf die Sonnenuntergänge vom Balkon: atemberaubend!
Großzügig sah ich über die kleinen Makel meiner Heimat auf Zeit hinweg. Zum Beispiel das Atomkraftwerk, das keine zwei Kilometer Luftlinie entfernt seinen Wasserdampf in den Himmel spie. Oder den Altersdurchschnitt meiner Nachbar*innen, der sich bei irgendwas um die 60 plus bewegte. Und die Kampfjets des nahe gelegenen Fliegerhorsts, die regelmäßig über meinen Kopf hinwegfauchten. Darüber, dass die Stadt gewisse Ähnlichkeiten mit der trostlos-fiktiven Stadt Winden aus der deutschen Serie »Dark« hatte.
Der Pandemie-Sommer flog nur so dahin, Freibad, Programmkino, erste Erkundungen der Umgebung. Das erste Fazit: Trotz eines kleinen Kulturschocks ließ es sich hier leben. Das erste Mal stutzig wurde ich beim Besuch eines Cafés, das ich mir als neues Stammcafé ausgeguckt hatte. Die junge Betreiberin hatte mir gerade einen Kaffee serviert und wir kamen ins Plaudern. Sie sei selbst zum Studium hergezogen und habe sich dann gemeinsam mit ihrer Schwester entschlossen, hier ein Café zu eröffnen. Wir redeten und sie erzählte, dass sie ihre Kuchen praktisch alle vegan herstellte, sich aber nicht traue, das offen zu bewerben, weil sie Angst habe, dass dann die Kundschaft ausbliebe. »Wie bitte?«, fragte ich. »Ja ja, wir sind hier nicht in Hamburg, hier dreht sich die Welt noch ein bisschen langsamer«, sagte sie und lachte ob meiner Reaktion.
Allein spazieren ist verdächtig
Aus dem anfänglichen Stutzen wurde bald ein leises, aber kaum überhörbares Zweifeln: Würde es mir gelingen, innerhalb eines Jahres in meinem neuen Biotop anzukommen? Beim täglichen Spaziergang im nahe gelegenen Wäldchen fiel mir auf, dass ich immer wieder von anderen Spaziergänger*innen gemustert wurde. Nicht auf eine neugierige Art und Weise, eher argwöhnisch. Konnte es sein, dass man als Anfang-Dreißigjähriger tagsüber, ohne Hund, Gesprächspartner*in, oder Laufschuhe an den Füßen keine Legitimation hatte, im Wald zu spazieren?
Es war kein Arbeitsloser oder Schwerenöter, der da auf der Suche nach Inspiration durch den Wald stapfte, bloß ich, der Repräsentant eines Lebensmodells, das im Weltbild des platten Landes, in dem ich mich befand, nicht vorzukommen schien.
Um nicht nur alleine an meinem Schreibtisch zu sitzen und weil ich mein Konto ein wenig aufbessern musste, begann ich ab und an Texte für die hiesige Lokalzeitung zu schreiben. Unterwegs mit den Sternsingern, Besuch im Filmmuseum, Corona-Bedingungen in Haft - Es gibt kaum eine Möglichkeit, die Menschen einer Stadt besser kennenzulernen, wenn nicht als Lokalreporter.
Da war die Mutter der Sternsingerkinder, die jeden Satz mit »hätte ich fast gesagt« beendete, weil sie so aufgeregt war, mit einem Lokalreporter sprechen zu dürfen. Dann der Anfang dreißigjährige dreifache Familienvater, der im Keller seines Einfamilienhauses versuchte, Ebay mit einer Verkaufsplattform die Marktmacht streitig zu machen. Der lokale Chorleiter, der sich selbst »Sänger-Künstler« nannte. Das alles, und auch die Trecker, die beinahe täglich an meinem Haus vorbeifuhren, riefen mir zu: »Das ist nicht deine Welt!«
»Sabine, unser Patient Herr David ist ein Buchautor«. Ich saß im Behandlungszimmer und merkte, wie unangenehm mir die Bemerkung des Arztes war, die er eine Spur zu laut zur Arzthelferin herüberjubilierte. Die Art wie er den Satz sagte, das Lächeln, mit dem er mich bedachte, verriet seine Intention: »Olala, wir haben es hier wohl mit einer kleinen Berühmtheit zu tun.«
Der Sommer wurde zum Herbst und der Herbst brachte den nächsten Lockdown mit sich. Schwimmbad, Kino, Theater wurden geschlossen. Ich hatte mich für mehrere Kurse an der Volkshochschule angemeldet, eine Idee, die mir in Hamburg nicht im Traum einfiele, doch aus den meisten Kursen wurde nichts - und das lag nicht an der Pandemie, sondern am mangelnden Interesse der Anwohner*innen.
Endlich knüpfte ich auch abseits meiner Reportertätigkeit erste Kontakte. Spaziergang mit einer Bekannten, Ende zwanzig: Sie arbeitet als Krankenpflegerin, ist verheiratet und erwartet ihr erstes Kind. »Mein Mann hat sich gerade einen Bulli gekauft«, erzählt sie, nachdem wir das Gespräch über ihr Baby hinter uns gebracht haben. Ich erfahre, dass sie und ihr Mann nun zwei Autos, einen Bulli und ein Motorrad besitzen. Kurz nach dem Spaziergang postet sie, dass sie nun bald eine Doppelhaushälfte bezieht. Doppelhaushälfte, vierfach motorisiert, in ihrer Freizeit häkelt sie - alles nicht meine Welt.
Der Winter im Lockdown ist trist, aber das ist er wohl auch in der Großstadt. Langsam beginnen mich die vielen alten Menschen zu deprimieren. Nichts gegen alte Menschen, aber wenn man sich selbst zu der jüngeren Hälfte der Bevölkerung zählt, braucht man eben eher Menschen derselben Alterskohorte um sich herum. Auch die Zivilgesellschaft wird hier ausschließlich von älteren Menschen gemacht.
Abseits seltener Aktionen der Gruppe »Seebrücke« und verirrten Querdenker*innen ist die Stadt politisch wie ausgestorben. Zur Gedenkdemo für den Anschlag in Hanau fahre ich aus Mangel an einer lokalen Kundgebung in die 70 Kilometer entfernte Großstadt. Die Gewerkschaftskundgebung am 1. Mai fällt der Pandemie zum Opfer. Um Flagge zu zeigen, versammeln sich dennoch um die 50 Menschen am Marktplatz. Auch hier: Das Gros der Teilnehmer*innen ist verrentet.
Im Frühjahr beginnt meine Stimmung immer mehr zu kippen. War ich am Anfang des Jahres noch aufgeschlossen gegenüber allem Neuen, drehen sich die Vorzeichen nun um. Die Kieselgärten, die Deutschlandfahnen, die SUVs sind mir plötzlich zu viel. Klar, es ist hier ruhiger als in der Großstadt, doch bei genauerem Hinhören ist auch hier immer etwas los. Immer mäht einer seinen Rasen - die meisten etwa einmal die Woche -, es wird vertikutiert, Hecken geschnitten, Moos zwischen den Fugen weggebrannt. Naiv, wer denkt, Laubbläser seien nur etwas für den Herbst.
Anders sein erfordert Mut
Eines Tages, ich sitze an meinem Schreibtisch, ist auf einmal Trouble auf der Straße zu hören. Ich gucke aus meinem Fenster und sehe mehrere Streifenwagen, die vor unserem Mietshaus halten. Kurz darauf klingelt es an der Tür. Ich öffne und erfahre von den Polizist*innen, das ein Mann in unserem Haus mit Haftbefehl gesucht wird. Auch meine Nachbarin öffnet ihre Tür, auf der eine Tafel mit dem Spruch »Ich würde mich ja gerne geistig mit ihnen duellieren, aber ich merke, sie haben keine Waffen« angebracht ist.
Schnell reißt sie das Gespräch an sich. Die Polizist*innen sollten sich mal nicht so anstellen. Nur weil der Mann vielleicht mal vergessen habe, seine Rechnungen zu bezahlen, sei er deswegen nicht gleich unanständig. Es kommt zum Wortgefecht. Schließlich schickt meine früh verrentete Nachbarin, die eine Mercedes-Limousine fährt, aber bei der Tafel einkauft, die Polizist*innen mit den Worten »Wenn ihr runter geht, könnt ihr dann meinen Müll mitnehmen, dann seit ihr wenigstens zu irgendwas zu gebrauchen« weg. Je mehr ich über diese Frau erfahre, desto mehr begreife ich: Es gibt sie hier, die Menschen, die nicht in die dörflichen Rollenbilder passen. Es braucht hier bloß etwas mehr Mut, einen anderen Weg einzuschlagen, als in der Großstadt.
Nur für mich ist das Abenteuer hier in ein paar Wochen zu Ende und ganz ehrlich: Ich bin froh darüber.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.