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Wer gehört dazu?

Mehr Symbiose wagen: Die Architekturbiennale in Venedig stellt als Präsenzausstellung Fragen zum künftigen Zusammenleben der Menschen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie wollen wir zusammen leben?«, fragt die Architektur-Biennale in Venedig. Kaum ein Ort auf der Welt wäre noch vor Jahresfrist, als die Biennale eigentlich eröffnet werden sollte, ungeeigneter für diese Fragestellung gewesen. Denn Leben war in Venedig schon lange nicht mehr möglich. Wer dort arbeitete, in den Restaurants, den Souvenirläden oder auf den Gondeln, konnte sich meist schon lange nicht mehr eine Wohnung in Venedig selbst leisten, sondern kam vom Festland an den Arbeitsplatz.

Leben im vollumfänglichen Sinne konnte man die Zwei-, maximal Drei-Tages-Existenz der Touristen, die die Stadt in vorpandemischen Zeiten schier überschwemmten und zu überteuerten Preisen in malerisch bröckelnden Palazzi und weniger malerisch bröckelnden Normalwohnungen übernachteten, auch nicht nennen. Es war oft ein Hetzen von Attraktion zu Attraktion, im Strom der anderen oder gegen ihn ankämpfend.

Die Pandemie hat auf einmal das Leben nach Venedig zurückgebracht, paradoxerweise. Venezianer, beziehungsweise die ins Hinterland verdrängten Ex-Venezianer, finden auf einmal Platz in ihrer alten Heimat. Touristen, nicht zu zahlreich, aber doch beträchtlich genug, um Wirtschaftsfaktor zu sein, haben die Chance, die Stadt selbst zu sehen und sie nicht zugestellt durch die Mengen anderer Touristen zu finden.

Muße haben aktuell sogar die Ausstellungsbesucher der Biennale. Sie werden nicht durch die langen Gänge des Arsenale gedrängt, müssen sich nicht in Länderpavillons quetschen, sondern können schweifen, imaginieren und über das Thema »Wie wollen wir zusammen leben?« von Chefkurator Hashim Sarkis tatsächlich nachdenken.

Sarkis stellt eine Frage, die durch die Pandemie noch drängender geworden ist. Das »zusammen« hat sich aufgelöst, ist angesichts von Abstandsregeln zu einer Art Delinquenz mutiert. »Leben« hat mehr die Form des Überlebens, Ausharrens und dabei nicht die Nerven Verlierens angenommen. Das »Wir« war vor der Pandemie bereits heftig umkämpft. Wer gehört dazu? Wer definiert es, wer repräsentiert dieses Wir? Durch die Aufteilung durch das pandemiebedingte Neusprech der »vulnerablen« und »systemrelevanten« Gruppen ist das »Wir« weiter zerbröselt.

Doch diese Corona-Fragen stellt sich diese Biennale nicht direkt, sondern nebenbei. Man kann dies bedauern. Doch es liegt eine eigentümliche Kraft in dieser Mega-Ausstellung, eben nicht die direkte Anwortveranstaltung auf Corona zu sein. Denn das Motto, das nach der Art des kollektiven Zusammenlebens fragt, geht eben über Viren und deren Bekämpfung hinaus.

Symbiose ist ein großes Thema dieser Biennale. Als Leben in und mit der Natur beschreibt es die Installation »Ego to Eco« des dänischen Studios Effekt im Arsenale. Verschiedene Wohn- und Siedlungsformen im Wald, von ganz klein und unauffällig bis zum hoch über die Baumkronen aufragenden »Forest Tower«, sind dort vorgestellt. Ein Zeitfaktor ist auch eingeschrieben, denn die Architekturmodelle sind in einen Wald aus 1200 Nadelbaumsetzlingen integriert. Die Setzlinge wachsen im Laufe der Ausstellungszeit bis November. Sie werden dann vielleicht sogar das Turmmodell überragen. Nach dem Ende der Ausstellung sollen sie »ausgewildert« werden. Ein schöner Kreislaufgedanke.

Ans unterschätzte Biotop der miteinander vernetzten und mit anderen Spezies sozusagen interagierenden Pilze erinnern die Landschaftsarchitekten des griechischen Büros Doxiades+ mit ihrem aus venezianischen Sporen gebildeten Garten der »Entangled Kingdoms«.

Für das Zusammenleben von Menschen und Kleinstlebenwesen wirbt das Projekt »BIT.BIO.BOT.«. In senkrecht angebrachten Glasröhren befinden sich Cyanobakterien, die sich von Schadstoffen aus der Luft ernähren und so die Luft reinigen. Die Effekte waren beim Einsaugen der Atemluft in der Installation selbst zwar nicht zu spüren. Der Wirkungsmechanismus ist aber nachgewiesen. Und in pandemischen Zeiten, in denen die bellizistische Rhetorik vom »Kampf gegen das Virus« so überstrapaziert wurde wie einst der »Kampf gegen den Terror«, ist dieser Ansatz von Kooperation zwischen Menschen und anderen Lebensformen ein eminent wichtiger Kontrapunkt.

Ein anderes Subthema sind neue und wiederentdeckte alte Materialien. Eine Forschungsgruppe der Uni Stuttgart entwickelte aus Glas- und Karbonfasern das »Maison Fibre«, ein mehrstöckiges Gebäude, das ebenfalls im Arsenale zu betreten ist. 23 Kilometer Glasfaser und 20 Kilometer Karbonfaser wurden zu Bündeln verknüpft, die erstaunliche Traglasten aushalten. Als Vorteil gegenüber herkömmlichen Materialien wie Stein und Beton gilt die robotische Fertigung, die vor Ort, energiesparend und geräuscharm erfolgen kann. Perspektivisch sei auch eine Verarbeitung von nachwachsenden Naturfasern möglich. Dem Thema Holz als Baumaterial widmen sich unter anderem der philippinische und der US-amerikanische Pavillon.

Die eindrucksvollste Antwort auf die Frage nach dem Zusammenleben liefert allerdings der rumänische Pavillon. Er beherbergt zwei sich ergänzende Installationen. Die eine weist auf das Phänomen der schrumpfenden Städte hin. Die andere porträtiert Rumänen, die ihre Heimat verlassen haben. In der EU ist Rumänien das Land mit den meisten Staatsbürgern in der Diaspora (14 Prozent der Bevölkerung). Die Journalistin Elena Stancu und der Fotograf Cosmin Bumbut suchten mit einem Camper Hunderte ihrer Landsleute auf. Sie fanden sie Erdbeeren pflückend in Spanien, in der Küche arbeitend in Portugal. Sie trafen aber auch auf einen rumänischstämmigen HipHopper, der sein Glück im Westen macht, und auf einen Künstler, der die Freiheit für seine Kunst nur im Ausland findet.

Stancu und Bumbut porträtieren ein Europa in Bewegung. Sie erzählen Armutsgeschichten, aber auch solche von Stolz, von neuen Horizonten. Und sie zeigen, wie zumindest die europäischen Institutionen für diese Art von Bürgern in Bewegung noch gar nicht reif sind. Als Parlamentswahlen anstanden, reichten die Wahlkabinen für die Auslandsrumänen bei weitem nicht aus. Wer migriert, ist also oft doppelt von der Demokratie ausgeschlossen: in der alten Heimat wie am neuen Aufenthaltsort.

Dass für diese Bevölkerung in Bewegung ganz neue Denkansätze notwendig sind, darauf weist die Installation »Moving Together« im zentralen Pavillon in den Giardini hin. Aufgrund des Klimawandels werden in naher Zukunft 150 Millionen Menschen ihren Herkunftsort verlassen müssen. Für diese globale Bewegung der Klimaflüchtlinge braucht es Infrastrukturen zum Leben, Arbeiten, Teilhaben und auch Weiterziehen.

Politische Antworten auf die Frage, wie ein Zusammenleben in Zukunft gestaltet werden soll, werden im österreichische Pavillon gesucht. Die Installation »Access is the New Capital«, vor allem aber die angedockten Diskussionsveranstaltungen fragen, wie der Plattformkapitalismus mit all seinen Eingriffen in städtische und ländliche Räume mindestens eingehegt werden kann. Diese Biennale stellt gute Fragen und blickt auf interessante Horizonte.

Bis 21. November

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