- Kultur
- »Anders fühlen«
»So was von Schönheit«
Ausweichen und Ausbrechen: Benno Gammerl erkundet in »Anders fühlen« die Emotionsgeschichte schwulen und lesbischen Lebens in der Bundesrepublik
Als Zivildienstleistender lernte Herr Meyer einen »ganz schüchternen Arzt« kennen, einen verheirateten Mann, »der sehr ungeoutet lebte«. Nach Kontakten in Kneipen und Parks eröffnete ihm diese Beziehung eine neue Gefühlsdimension. »Auf jeden Fall war der unendlich zärtlich. Das waren die endgültigen Erlebnisse, wo mir wirklich klar wurde, dass ich schwul war. So was von Schönheit.«
Wolf-Peter Meyer, der eigentlich anders heißt, wurde 1944 in einem Dorf in Hessen geboren, als »Sohn armer kleiner Leute«, wie er erzählt. Neben »Frau Schmidt« ist er eine der beiden Personen, deren Lebenserzählungen sich durch die Kapitel von »Anders fühlen« ziehen. Das Buch des Historikers Benno Gammerl sprudelt vor lebendigen, persönlichen Geschichten, die von der Entdeckung von Sexualität, Liebe, vom Erkunden, Verstecken und vom Kämpfen handeln - von Auflehnung und Alltag gleichermaßen. Gammerl analysiert und strukturiert diese individuellen Erlebnisse und verknüpft sie mit politischen und kulturellen Entwicklungen der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit bis in die 1990er-Jahre. Dabei spürt der Autor vor allem der Bedeutung von Emotionen nach: Wie veränderte sich das schwul-lesbische Gefühlsleben im Laufe der Dekaden? Wie prägte es gesellschaftliche und politische Prozesse - und wie wirkten sich Strukturen und historische Entwicklungen wiederum auf das individuelle Fühlen aus? Am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin erarbeite Gammerl auf diese Weise eine ebenso informative wie berührende »Emotionsgeschichte«, wie der Untertitel ohne Übertreibung verheißt.
Gammerls Quellen sind ausführliche Interviews mit Schwulen und Lesben unterschiedlichen Alters sowie Zeitschriften für Schwule und Lesben, die zwischen 1960 und 1990 erschienen sind. Mit 15 Frauen und 17 Männern hat der Historiker jeweils zwei ungefähr dreistündige Gespräche geführt. Eine statistisch nicht repräsentative Gruppe, die jedoch vielfältige Einblicke in sehr unterschiedliche Realitäten und Erfahrungen schwul-lesbischen Lebens in der Bundesrepublik gibt, auf die sich Gammerl fokussiert. Die Entwicklungen der DDR verliefen anders und verdienten eine eigene Betrachtung, erklärt der Historiker.
Auf Grundlage seiner Literaturrecherchen und Interviews arbeitete er spezifische, für bestimmte Epochen typische, emotionale Muster und Praktiken heraus. Grob unterteilt Gammerl seine Erzählung in drei Phasen: die des »Ausweichens« in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, die des »Aufbrechens« in den 1970er-Jahren und die des »Ankommens« in den 1980er-Jahren. Durch diese Jahrzehnte führt das Buch, beleuchtet individuelle Erfahrungen, die gerade in der Nachkriegszeit von Gefühlen der Angst und dem Wunsch nach dem Verstecken der eigenen Emotionen geprägt waren. Dabei nimmt Gammerl seine Einordnungen behutsam vor. Er präsentiert keine schematischen Kategorien, in die er die Erfahrungen seiner Interviewpartner*innen presst. Immer wieder betont er stattdessen die Bedeutung von Graustufen und Ambivalenzen, lässt Raum für einander widersprechende Erzählungen und Gefühle.
Denn auf der einen Seite stehen historische Meilensteine wie die Abschaffung des Paragrafen 175 des Strafgesetzbuchs 1994 und die damit einhergehende endgültige Legalisierung von Homosexualität. Auf der anderen Seite stehen persönliche Erfahrungen, die sich teilweise nicht mit der Vorstellung von bestimmten Epochen decken. Auch in der Nachkriegszeit etwa fanden Menschen Orte, an denen sie sich treffen konnten und Freiräume, um sich zu entfalten, schreibt Gammerl. Auch entkräftet Gammerl bestimmte vorherrschende Vorstellungen - etwa, dass es Lesben immer grundsätzlich einfacher gehabt hätten, weil sie nicht kriminalisiert wurden. Auch sie hatten spezifische Probleme, erläutert der Autor an Beispielen. Etwa sei es lange problematisch gewesen, als Frauenpaar alleine auszugehen - zumal sie ständig riskierten, von Männern angesprochen zu werden.
Auch heute ist trotz der erkämpften politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nicht alles schön. Neben der fortschreitenden Normalisierung schwul-lesbischer Lebensentwürfe in vielen gesellschaftlichen Bereichen gibt es immer noch Benachteiligungen. Gammerl liefert keine geradlinige Erfolgsgeschichte. Er schreibt: »Aufgrund der Errungenschaften, die im Lauf der Zeit erstritten wurden, kann und muss die Geschichte der Homosexualitäten seit Mitte des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte der Emanzipation und der Befreiung erzählt werden, als eine Geschichte des Fortschritts. Zugleich ist es aber auch eine Geschichte der fortgesetzten Stigmatisierung.«
Dass Schwule und Lesben nun in vielerlei Hinsicht freier sind, bringt laut Gammerl neue Herausforderungen - beispielsweise den Druck, ein perfektes schwul-lesbisches Leben zu führen. Schließlich ist ja - zumindest theoretisch - alles möglich. Der äußere Druck weicht also mitunter einem inneren. Auf theoretischer Ebene kombiniert Gammerl, der inzwischen als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrt, affekttheoretische mit sozial-konstruktivistischen Ansätzen. Das bedeutet, dass er Gefühle als etwas sieht, das unmittelbar, »natürlich« wirken kann, aber gleichzeitig von strukturellen Rahmenbedingungen beeinflusst wird. »Das Empfinden ist zugleich natürlich und kulturell, es oszilliert permanent zwischen sozialen Prägungen und körperlicher Unmittelbarkeit«, schreibt Gammerl.
Sehr interessant sind Stellen im Buch, in denen der Historiker Einblicke in Interviewsituationen gibt. Dann etwa, wenn ein Gesprächspartner vehement bestreitet, dass Gefühle auch sozial geprägt werden. Gammerl wiederum will das Argument des »puren unveränderlichen Gefühls« nicht gelten lassen - und interpretiert den Konflikt im Nachhinein als einen zwischen den Generationen, deren Denken und Verstehen unterschiedlich geprägt ist.
Gerade die Interviews mit den älteren Schwulen und Lesben geben aus ihren unterschiedlichen Perspektiven erhellende Einblicke in die Kulturgeschichte der Bundesrepublik. »Anders fühlen« ist ein für alle empfehlenswertes Buch, in dem wohl jeder Mensch berührende, inspirierende oder nachdenklich machende Aspekte entdecken wird.
Neben dem gleichgeschlechtlichen Begehren und Lieben geht es dabei um Menschen, die sich auf vielen Ebenen sehr unterscheiden. Es geht ums das Leben auf dem Land und in der Stadt, um die Emanzipation von Frauen inner- und außerhalb der Ehen, um Kultur- und Partyleben, um Beziehungen und Einsamkeit. Dabei beleuchtet Gammerl die Konfliktlinien, die im Laufe der Jahrzehnte zwischen unterschiedlich eingestellten Schwulen und Lesben auftauchten. Es geht beispielsweise um die Ablehnung von Männern in Lesbenkreisen und andersherum, um Spannungen zwischen Politisierung und Privatheit, um die Veränderungen von Begriffen und Selbstbezeichnungen.
Gammerl zeigt, dass Gefühle wie Angst und Wut das Leben von Menschen prägen, aber auch zum Motor für Veränderungen werden können. Es gibt viele traurige, aber auch viele Mut machende Geschichten. In seinem letzten O-Ton sagt Herr Meyer etwas, das man noch lange im Ohr behält: »Mein Lebensglück ist, dass ich schwul bin. Nicht weil ich da anders bin, sondern wegen der Begegnungen. Und wenn man bei mir anruft, dann sagt der Anrufbeantworter: 'Carpe diem, nutze den Tag, und bleiben Sie behütet.'«
Benno Gammerl: »Anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte«, Hanser Verlag, 416 S., geb., 25 €
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