- Berlin
- Impfpriorisierung
Kein Impftermin, nirgends
Die Priorisierung ist aufgehoben - aber viele Angehörige von Risikogruppen sind noch ungeimpft
Wütend und verzweifelt fühlt sich Jenny Meissner seit Wochen. »Kein Arzt kann mir Hoffnung auf einen Impftermin im Juni machen, obwohl ich längst in die Prio-Gruppe 2 aufgerückt bin«, berichtet die im sechsten Monat schwangere Berlinerin, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, noch vor wenigen Tagen dem »nd«. Am Montag wurde dann bundesweit die Impfung nach Priorisierung aufgehoben. Alle Berliner*innen können sich nun impfen lassen, unabhängig davon, ob sie zu einer Risikogruppe gehören, oder nicht. Der Run auf die Impfmöglichkeiten wird so noch einmal ordentlich zunehmen - dass es nach wie vor nicht genügend Impfdosen gibt, spielt keine Rolle.
Jenny Meissner hat eine Berg- und Talfahrt bei der Frage der Covid-19-Schutzimpfung hinter sich. Erst hieß es, schwangere Frauen würden in Deutschland nicht geimpft, und als sich diese medizinische Einschätzung änderte, waren die Impftermine aufgrund der Aufhebung der Priorisierung der Gruppe 3 am 3. Mai innerhalb weniger Stunden bis weit in den Juli hinein vergeben. Keine Chance für Jenny Meissner, die auch bei dem Versuch, den Weg über niedergelassene Ärzt*innen zu gehen, kein Glück hatte. Stundenlang Zeit, um jeden Tag zu telefonieren und im Internet zu recherchieren, hat die 37-Jährige ebenso wenig wie die nötigen Nerven für Warteschleifen und Vertröstung, denn ihre 7-jährige Tochter, die sie aus Angst vor einer Ansteckung nicht in die Schule gehen lassen möchte, betreut sie zu Hause. »Ich habe einfach gesehen, wie wenig Abstand die Kinder und auch Erzieher*innen im Hort halten, das Risiko war mir in meiner Situation einfach zu hoch«, erklärt Meissner.
Wie der Neuköllnerin, der es nicht an organisatorischen Fähigkeiten mangelt, geht es vielen Berliner*innen, deren Position man im allgemeinen Lob auf den Fortschritt der Impfkampagne nur selten hört. Eine andere Gruppe, deren Angehörige laut Gesundheitsverwaltung früh und umfänglich Impfeinladungen erhalten haben, ist die Gruppe der chronisch Kranken und ihrer Angehörigen. Eine halbe Million Menschen und mit ihnen 180 000 Angehörige sollten priorisiert geimpft werden. Ob dies auch tatsächlich der Fall ist, und die Betroffenen vor der Aufhebung der Priorisierung auch tatsächlich eine Immunisierung erhalten haben, dazu kann Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am Montag in der Sitzung des Gesundheitsausschusses des Abgeordnetenhauses keine Auskunft erteilen. Mit der Abschaffung der Impfcodes habe man die Aufgabe an die ambulanten Praxen übergeben. Sie seien angehalten, die »innere« Impfpriorisierung aufrechtzuerhalten.
Auch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin sieht dem zu erwartenden noch einmal zunehmenden Ansturm nach der Prio-Aufhebung mit Sorge entgegen, erklärte KV-Sprecherin Dörte Arnold am Montag. Er sei schon in den vergangenen beiden Wochen gewaltig gewesen. »Es war heftig, und es wird mit großer Sicherheit heftig bleiben«, sagte Arnold. Exakte Zahlen zur Entwicklung der Nachfrage nach Impfterminen liegen der KV nicht vor. »Wir bekommen aber Feedback aus einzelnen Praxen«, so die KV-Sprecherin. Dort sei nicht damit zu rechnen, dass für alle, die das möchten, kurzfristig ein Impftermin vereinbart werden könne. Arnold wies darauf hin, dass nach wie vor zu wenig Impfstoff zur Verfügung stehe. »Außerdem werden jetzt Impfdosen für die Zweitimpfungen und für die Betriebsärzte zurückgehalten.« Beim Impfen in den Praxen gehe es so derzeit nur »mit angezogener Handbremse« vorwärts.
Gemäß Senatorin Dilek Kalayci gibt es am Montag für die Impfzentren rund 130 000 zusätzliche Erstimpfungstermine. Am Montagvormittag waren beispielsweise für das Impfzentrum im Erika-Heß-Eisstadion in Wedding noch Termine für die erste und für das auf dem Messegelände in Charlottenburg für die zweite Juliwoche zu buchen. Vollständigen Impfschutz noch während der Sommerferien wäre in diesem Fall nicht mehr möglich.
Vielleicht hat auf diesem Weg auch die Mitarbeiterin der Forensischen Klinik des Maßregelvollzugs am Olbendorfer Weg Glück. Auch sie konnte bisher trotz vieler Bemühungen keinen Impftermin bekommen, wie sie »nd« berichtete. Ihre tägliche Arbeit im patientennahen Bereich findet keine Berücksichtigung. Auch in einer Einrichtung für besonders Schutzbedürftige hatte bis vor wenigen Tagen keine der Mitarbeiter*innen ein Impfangebot erhalten, dabei war dieser Umstand schon vor über vier Wochen aufgedeckt worden (»nd« berichtete).
Laut Corona-Lagebericht der Gesundheitsverwaltung hat es in Berlin bisher rund 2 391750 Impfungen gegeben, bei den Erstimpfungen liegt die Impfquote bei 44,8 Prozent, eine vollständige Impfung haben 20,3 Prozent der Menschen in Berlin erhalten.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.