Ein Test, der seinen Zweck erfüllt
Das 7:1 über Lettland macht den deutschen Kickern neuen Mut. Bei der EM wird’s aber schwerer
Vermutlich ist es in einer Stadt wie Düsseldorf unvermeidlich, dass an einem beschwingten Fußballabend auch die Kultband »Die Toten Hosen« zu hören sein muss. Und so schepperte »Tage wie diese« beim Abgang der deutschen Nationalspieler aus den Lautsprechern, nachdem Kapitän Manuel Neuer und Kollegen eine halbe Ehrenrunde vor der Gegentribüne gedreht hatten. Solch einen Tag hatte es für die oft kritisierte DFB-Auswahl tatsächlich lange nicht gegeben: Von den Rängen spendeten manche aufmunternden Applaus, andere wedelten mit Fähnchen. Wenn es noch Rückenwind für den Umzug ins Basiscamp nach Herzogenaurach brauchte, hatte der 7:1-Kantersieg gegen Lettland vor 1000 Fans beim letzten Test vor der Europameisterschaft seinen Zweck erfüllt. Eine Prise frisches Selbstbewusstsein hat noch keinem Profifußballer geschadet.
Das Torfestival kann indes ebenso hilfreich wie trügerisch sein. Der überforderte Sparringspartner vom Baltikum, in der Weltrangliste nur auf Platz 138, hatte nichts mit den hohen Anforderungen gemein, die bei der EM demnächst auf die deutsche Elf warten. Weshalb auch Joachim Löw nicht ansatzweise in Überschwang verfiel. »Was Offensive, Variabilität und Individualität betrifft, ist das ein völlig anderes Kaliber«, sagte der Bundestrainer beim Vergleich mit EM-Auftaktgegner Frankreich. Das Kontrastprogramm könnte größer kaum sein. Neben dem Lob für einige Abläufe in Angriff und Abwehr gab es auch Tadel für Nachlässigkeiten und Ungenauigkeiten nach der Pause, als erneut Intensität und Tempo abfielen. Ergo: »Wir haben immer noch Luft nach oben.«
Doch immerhin hat Löw vor dem Einzug in ein ganz neu erbautes Quartier auch für seine Mannschaft ein Gerüst gezimmert, bei dem die wichtigsten Stützen nun stehen. Die Belastungsprobe fürs wieder deutlich ältere Gebilde werden in der Gruppenphase nacheinander Weltmeister Frankreich (15. Juni) und Titelverteidiger Portugal (19. Juni) sein. Die Mannschaft holte sich dafür in Düsseldorf noch jene Bestätigung ab, die sich Löw vor seinem letzten Turnier erhofft hatte. Die im Training erarbeiteten Inhalte wurden abgerufen. Was bei den Länderspielmaßnahmen sonst ob der engen Saisonzeitpläne teils unmöglich war, scheint nun besser zu gelingen. Zudem hat sich der 61-Jährige ungeachtet aller Taktikdebatten auf ein System festgelegt - zumindest für den Start.
Die Dreierkette soll der Abwehr Stabilität geben, in der vernünftigerweise Mats Hummels nun den zentralen Part besetzt. So können dessen Schnelligkeitsdefizite in einem Sprintduell mit Kylian Mbappé notfalls von Matthias Ginter und Antonio Rüdiger ausgebügelt werden. Flankiert wird dieser Verbund links von Robin Gosens, der sich mit dem Führungstor für einen guten Auftritt belohnte und danach frei heraus erklärte: »Meine Family war da, ein paar Zuschauer im Stadion, ich hab’ eine Hütte geknipst; da ist mir schon einer abgegangen.«
Nicht ganz so ekstatisch wird Joshua Kimmich dieses Freundschaftsspiel bewerten, in dem der Organisator diesmal auf der rechten Seite aushelfen musste. Die Rochade erinnerte etwas an die Umstellung für Philipp Lahm bei der WM 2014 - damals wurde Löw erst im Turnierverlauf durch die Verletzung von Shkodran Mustafi zur Rücknahme eines Experiments gezwungen. Nun löst Löw wohl vorab sein Luxusproblem im zentralen Mittelfeld, in dem er Ilkay Gündogan und Toni Kroos spielen ließ.
Sollte Löw seinem Lieblingsschüler Kroos zutrauen, sich gegen den weltbesten Balldieb N’Golo Kanté durchzusetzen - Zweifel sind erlaubt -, wird sich Kimmich wohl auch gegen Frankreich erst mal mit der Rolle auf der Außenbahn zufrieden geben müssen. Die hatte er übrigens auch beim verlorenen EM-Halbfinale 2016 gegen die Franzosen bekleidet. »Bei Joshua weiß man, dass er keine Anlaufzeit braucht«, beteuerte Löw, der mit Aufstellung und Ausrichtung den groben Fingerzeig fürs Frankreich-Spiel lieferte: »Natürlich werden die meisten dieser Spieler auf dem Platz stehen.« Trotzdem solle der Konkurrenzkampf die nächsten Tage noch toben, so der Bundestrainer. Sein Torwart, Jubilar Manuel Neuer, den das Gegentor in seinem 100. Länderspiel erkennbar nervte, ist generell positiv gestimmt: »Es wird nicht leicht, wir haben eine schwere Gruppe, aber es ist auch unangenehm, gegen uns zu spielen. Ich habe ein gutes Gefühl.«
Die Rückkehr von Thomas Müller und das Aufblühen von Kai Havertz sorgen offensiv für einen Qualitätsschub. Dem in der Umbruchphase zuletzt gesetzten Leroy Sané droht damit doch wieder ein Bankplatz, denn Havertz knüpfte nahtlos an seinen starken Vortrag im Champions-League-Finale an. Auf den vor Spiellaune sprühenden 21-Jährigen zu verzichten, wäre ein Frevel. Dennoch mahnte Löw ausdrücklich: »Wir sollten nicht glauben, es ist alle Arbeit getan. Jetzt fängt die Arbeit richtig an.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.