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Fischers Erbin
Annalena Baerbock will Kanzlerin werden. Viele ihrer Positionen erinnern an den früheren Grünen-Außenminister
Die Nacht zum 1. Mai 2004 hat Annalena Baerbock an der Oderbrücke zwischen der brandenburgischen Stadt Frankfurt (Oder) und Slubice in Polen verbracht. Der Himmel war von einem Feuerwerk hell erleuchtet. Vor allem junge Menschen hatten sich hier versammelt. Einige hüllten sich in Fahnen, als es kühler wurde. Zu sehen waren Schwarz-Rot-Gold, das polnische Weiß-Rot und das Banner der EU mit goldenen Sternen auf blauem Grund. Sie feierten, dass zehn neue Staaten der Europäischen Union beitraten, darunter Polen. Baerbock war damals 23 Jahre alt und bejubelte das Zusammenwachsen Europas. Sie studierte Politikwissenschaften und trat wenige Monate nach der EU-Osterweiterung bei den Grünen ein.
Die Europapolitik ist bis heute ein Schwerpunkt in der Arbeit der gebürtigen Hannoveranerin geblieben. Sie zählt zu den Menschen, die von der europäischen Integration profitiert und im Ausland studiert haben. Ihren Master erwarb die Politikerin an der London School of Economics and Political Science. In ihrem in den vergangenen Wochen viel diskutierten Lebenslauf bezeichnete die Grünen-Politikerin sich selbst als »Völkerrechtlerin«, obwohl sie keine Volljuristin ist. Baerbock hat dazu erklärt: »Meinen Lebenslauf habe ich knapp und komprimiert veröffentlicht und dabei unwillentlich einen missverständlichen Eindruck erweckt, den ich nicht erwecken wollte.« Das sei »Mist« gewesen. Mit dieser Entschuldigung dürfte die Sache erledigt sein.
Die alberne Debatte, ob die Kanzlerkandidatin der Grünen die Wählerschaft mit ihrem geschönten Lebenslauf hinters Licht geführt hat, ist politisch irrelevant. Sie sagt nichts darüber aus, wo Baerbock zu verorten ist. Es wäre beispielsweise viel interessanter zu erfahren, wie die Politikern, die sich nun in ihrem Lebenslauf »Doktorandin des Völkerrechts, Promotion nicht abgeschlossen« nennt, zu Prinzipien des Völkerrechts steht.
Ein Hinweis darauf liefert ein Glückwunschschreiben an den früheren Grünen-Außenminister Joschka Fischer, das Baerbock zum 70. Geburtstag ihres Parteikollegen am 12. April 2018 im Kurznachrichtendienst Twitter verfasst hat. Darin heißt es: »Joschka Fischer hat den Rock ’n’ Roll in die Politik gebracht und die Grünen in die Regierungsfähigkeit geführt. Er hat unserer Partei auch viele unbequeme Entscheidungen zugemutet. Aber nur aus Zumutung erwächst (sic!) Zutrauen und Kraft. Alles Gute, Joschka!« Eine »unbequeme Entscheidung«, wie Baerbock es nennt, war die deutsche Beteiligung an der Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato im Frühjahr 1999. Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Führung des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder und von Außenminister Joschka Fischer hatte beschlossen, dass die Bundeswehr an diesem Krieg teilnimmt. Anlass hierfür waren die Auseinandersetzungen um die Provinz Kosovo, die sich später abspaltete. Ein Mandat der Vereinten Nationen lag für den Militäreinsatz der Nato nicht vor. Somit war er völkerrechtswidrig.
Es ist kein Zufall, dass sich Joschka Fischer in den vergangenen Wochen öffentlich immer wieder sehr wohlwollend über Baerbock geäußert hat. Auf die Frage, ob seine Parteikollegin Bundeskanzlerin werden könne, sagte Fischer kürzlich nach einem Bericht des Nachrichtensenders NTV: »Sie hat die Fähigkeiten.« Von einem Bündnis mit SPD und Linkspartei nach der Bundestagswahl riet Fischer ab. Teilen der Linken warf er »romantische« Vorstellungen von Russland vor. Damit liegt er mit Baerbock auf einer Wellenlänge.
Im parteiinternen Netzwerk, das Baerbock gestrickt hat, gibt es einige Verbindungen zu dem früheren Außenminister. So ist der Kommunikationsexperte Michael Scharfschwerdt ein wichtiger Berater der Grünen-Spitzenfrau. Scharfschwerdt und Baerbock waren beide Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa bei den Grünen. Scharfschwerdt arbeitete einige Zeit auch bei der Strategieberatungsfirma von Fischer. Nach Recherchen der Grünen-Kennerin und Korrespondentin der »Rheinischen Post«, Birgit Marschall, hat Scharfschwerdt einen Blick auf Baerbocks Bewerbungsrede beim Parteitag geworfen, auf dem sie Anfang 2018 zusammen mit Robert Habeck zur neuen Vorsitzenden der Grünen gewählt wurde.
Den beiden Politikern gelang es auf diesem Parteitag, alte Strukturen in der Partei aufzubrechen. Bis zu diesem Zeitpunkt galt, dass die Parteispitze paritätisch nicht nur von Männern und Frauen, sondern auch von Linken und Realos besetzt wird. Habeck und Baerbock gehören beide dem letztgenannten Flügel an. Baerbock setzte sich in einer Abstimmung gegen die Parteilinke Anja Piel durch, die später in den DGB-Bundesvorstand wechselte.
Auch mit ihrer Kanzlerkandidatur, die nun auf dem Parteitag der Grünen am Wochenende von den Delegierten formal bestätigt wird, durchbrach Baerbock alte Gesetzmäßigkeiten. Anstelle von zwei Spitzenkandidaten soll es nun eine Person richten. Das hat es bei den Grünen schon lange nicht mehr gegeben, ist aber eine folgerichtige Entscheidung, wenn man bedenkt, dass die Grünen in allen bundesweiten Umfragen über 20 Prozent liegen. Der letzte Politiker, der so viel Macht in der Partei auf sich vereint hat, war übrigens Joschka Fischer, der vor rund 20 Jahren ebenfalls als alleiniger Spitzenkandidat ins Rennen ging.
Parteiintern hat Habeck seiner Kollegin den Vortritt bei der Kanzlerkandidatur gelassen. Er hat das nicht ganz freiwillig getan, musste aber eingestehen, dass Baerbock in der Partei den größeren Rückhalt genießt. Die Personalentscheidung ist aber auch ein Risiko. Denn Baerbock hat keine Erfahrungen als Spitzenfrau in Wahlkämpfen. Kurz nach ihrer Nominierung war die Euphorie bei den Grünen groß. Doch nun geht es in den Umfragen für sie wieder etwas nach unten. Man darf nicht vergessen, dass die Grünen seit Jahren die kleinste Bundestagsfraktion stellen und mehr oder weniger als Kritiker der Regierung auftraten. Nun werden sie von den Jägern zu den Gejagten und müssen sich ebenfalls zahlreiche kritische Fragen zu ihren Vorhaben und ihrem Programm gefallen lassen. Die heftigen Reaktionen auf die von Baerbock angestoßene Debatte über höhere Benzinpreise ist hierfür ein Beispiel. Die Partei wird auch weiterhin Probleme haben zu erklären, wie ihre Vorhaben beim Klimaschutz auch sozial abgesichert werden können. Auch darüber wird beim Bundesparteitag gestritten. Insbesondere die Grüne Jugend will, dass die Partei radikalere Forderungen stellt. Sie haben Anträge eingereicht, die einen kostenlosen ÖPNV und eine volle Rückerstattung der CO2-Kosten im Wahlprogramm vorsehen. Dass sich der Parteinachwuchs durchsetzt, gilt als wenig realistisch. Zumal dann die Reala Baerbock ein ziemlich linkes Programm vertreten müsste. Das würde einige Probleme im Wahlkampf mit sich bringen.
Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt hat gezeigt, dass sich die Grünen nicht auf ihre guten Umfragewerte verlassen können. Am Ende landeten sie bei lediglich 5,9 Prozent und damit weit unter den eigenen Ansprüchen. Auch wenn die Parteiführung bis zur Bundestagswahl das Ziel ausgeben wird, dass Baerbock Kanzlerin wird, werden sich die Parteistrategen auch darauf einstellen, dass es nicht reichen könnte und einmal mehr die Union, die mit dem CDU-Vorsitzenden Armin Laschet ins Rennen geht, als Siegerin vom Platz gehen wird.
In diesem Fall wäre ein schwarz-grünes Bündnis eine realistische Option und Baerbock die erste Anwärterin für das Amt der Außenministerin. Was dann folgt, ist absehbar. Die Grünen-Politikerin ist für eine europäische Armee, in der sich Fähigkeiten einzelner Staaten ergänzen sollen, sowie eine enge transatlantische Partnerschaft mit den USA in der Nato. Der deutsche Ton gegenüber Russland dürfte noch schärfer werden als bisher. Dass Baerbock und ihre Grünen die bei ihnen verhasste Pipeline Nord Stream 2, mit der Erdgas von Russland unter der Ostsee nach Deutschland transportiert werden soll, noch verhindern können, ist allerdings unwahrscheinlich. Die Pipeline soll Ende dieses Jahres fertig werden.
Im Konflikt mit Russland hat Baerbock angekündigt, dass die Ukraine eine »Perspektive in der EU und in der Nato« haben sollte. Ersteres ist wegen der desaströsen wirtschaftlichen Lage der Ukraine wohl zu teuer für die Europäische Union. Eine Mitgliedschaft in der Nato war bisher vor allem deswegen problematisch, weil dann angesichts des Krieges in der Ostukraine eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und Russland befürchtet wird. Baerbock will es darauf ankommen lassen. Oder mit anderen Worten: Diese Frau ist bereit, das Erbe von Joschka Fischer bei den Grünen anzutreten.
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