Die optimale Notlösung

Die deutschen Fußballer starten nach langem Warten in die EM - nicht jeder auf seiner Lieblingsposition

  • Maik Rosner, München
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Joshua Kimmich zuletzt in der Münchner Arena auf der rechten Seite auflief, da musste er sich kurz nach der Rückkehr von der Klub-WM in Katar mit Arminia Bielefeld abmühen. Es war ein garstiger Februarabend mit Schneegestöber, an dem der zunächst geschonte Kimmich beim Stand von 2:3 als Rechtsverteidiger eingewechselt wurde. Obwohl es mit ihm noch zu einem 3:3 reichte, durfte er unter Hansi Flick danach wieder stets im zentralen defensiven Mittelfeld. Dort auflaufen, wo ihn der künftige Bundestrainer Flick in der Ära nach der EM mit hoher Wahrscheinlichkeit auch aufbieten wird.

An diesem Dienstagabend beginnt für die deutsche Nationalmannschaft die EM mit dem Gruppenspiel gegen Weltmeister Frankreich. Der aktuelle Bundestrainer Joachim Löw scheint davor fest entschlossen, Kimmich wieder auf der rechten Außenbahn einzusetzen. Nicht, weil er andere im defensiven Mittelfeld für besser hält. Sondern weil er Kimmich auf rechts für besser hält als alle anderen. »Der Jo spielt da, wo es das Beste ist für die Mannschaft«, sagte Löw.

Die Frage, wo dies der Fall ist, wird allerdings in den Debatten um die angedachte defensive Dreierkette mit zwei Außenhelfern (Kimmich und Robin Gosens) besonders eifrig diskutiert. Ist es also das Beste für die deutsche Mannschaft, wenn Kimmich rechts spielt und stattdessen Ilkay Gündogan neben Toni Kroos vor der Abwehr? Oder kann Kimmich mit seinen Fähigkeiten und seinem Gestaltungswillen nicht viel besser im Zentrum Einfluss nehmen, auch als kampfstarker Wellenbrecher im Spiel gegen den Ball, zumal bei der Angriffswucht der Franzosen?

Manche Beobachter, wie der frühere Bundestrainer Berti Vogts, stimmen eindeutig für die zweite Variante. Er äußerte gar die Befürchtung, dass man ohne Kimmich im Zentrum von Frankreich »überrannt wird«. Löw scheint sich davon nicht zum Umdenken überreden zu lassen, zumindest fürs erste Spiel gegen den Weltmeister, zugleich auch der wohl größte Favorit dieses Turniers. Der Bundestrainer setzt aller Voraussicht nach auf Kroos und Gündogan im Zentrum, wie beim 7:1 im letzten EM-Test gegen Lettland. Wenn man so will, sieht Löw in Kimmich auf rechts offenbar eine optimale Notlösung wegen des Überangebots im Zentrum, das sich in Kürze mit dem nach einem Muskelfaserriss zurückkehrenden Leon Goretzka noch einmal erhöhen wird.

Löw kann für seine Idee, Kimmich rechts zu positionieren, auch auf ein Turnier verweisen, das ein bisschen wie eine EM daherkam, obwohl nur Vereine daran teilnahmen: Im vergangenen August in Lissabon, beim Finalturnier der Champions League, spielte Kimmich unter Flick stets Rechtsverteidiger, allerdings in einer Viererkette. Bayerns und auch Frankreichs angestammter Mann auf der Position, Benjamin Pavard, hatte sich zuvor verletzt. Und Kimmich zeigte in Portugals Metropole, dass er auch von außen viel bewegen kann. Prominentestes Beispiel dafür war seine Flanke im Finale gegen Paris Saint-Germain, die Kingsley Coman zu seinem Kopfball zum 1:0-Sieg nutzte. Kimmichs starke Auftritte waren wie eine Erinnerung an jene Zeiten, in denen er vor seiner Beförderung ins Zentrum noch regelmäßig als Rechtsverteidiger eingesetzt worden war.

Der Franzose Coman kommt nun zwar nicht als Abnehmer infrage, aber das ändert natürlich nichts an Löws Plan. Zumal er in Kimmich eine Art Philipp Lahm 2.0 sieht. Der 26-Jährige könne »alle Positionen spielen«, sagte der Bundestrainer, und zwar »ohne lange Eingewöhnungszeit«, was für die Klasse Kimmichs spreche. Ähnlich wie bei Lahm, der bei der WM 2014 ebenfalls nach hinten rechts zurückkehrte und dort seinen größten Beitrag zum Titelgewinn leistete.

Kimmich hat sich entschlossen, das Thema so pragmatisch anzugehen wie Löw. Insgeheim würde er zwar wohl lieber im defensiven Mittelfeld auflaufen, also dort, wo er sich beim FC Bayern längst etabliert hat - und eigentlich auch in der Nationalmannschaft. Doch Kimmich weiß, dass er persönliche Präferenzen oder gar Eitelkeiten zurückstellen muss. »Solange wir die Spiele gewinnen, ist es mir komplett egal, ob ich rechts oder in der Mitte spiele«, sagte er deshalb der ARD im deutschen EM-Quartier in Herzogenaurach. Zuvor hatte er stets betont, dass er den Titel gewinnen wolle. Sollte das gelingen, kümmert es Kimmich wohl wirklich nicht, ob er dazu als Sechser oder auf rechts beigetragen hat. Oder womöglich in beiden Rollen.

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