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An den Mayas vorbei
Das riesige Eisenbahnprojekt »Tren Maya« soll die archäologischen Stätten im Südosten Mexikos miteinander verbinden, den Tourismus stärken und Arbeitsplätze schaffen. Viele Indigene, die dort in politisch autonomen Regionen leben, protestieren gegen den Bau
Der »Tren Maya« (Maya-Zug) ist das Prestigevorhaben von Präsident Andrés Manuel López Obrador. Das Riesenprojekt führt durch die grüne Lunge Mexikos und die Heimat vieler Maya-Gemeinden. Es soll vor allem den Tourismus fördern und dient der industriellen Erschließung der Region, doch viele indigene Gemeinden vor Ort befürchten dadurch Vertreibung und große Naturzerstörungen.
Eisenbahnen haben in der Geschichte eine wichtige Rolle gespielt. Durch den technologischen Fortschritt war es etwa möglich, viele Menschen und große Mengen an lebensnotwendigen Gütern auf schnellem Weg und über weite Strecken sicher zu transportieren. Doch Züge haben sich in vielen Fällen auch als Beginn einer fortwährenden Zwangsmodernisierung erwiesen. Vom »Feuerross« auf der ersten transkontinentalen Eisenbahnlinie in den USA zwischen Atlantik und Pazifik bis zum kontroversen tibetischen »Stahldrachen« waren Eisenbahnen, entgegen ihres grünen Images, schon immer ein effizientes Mittel zur territorialen Erschließung, Kolonisierung und Ausbeutung von Mensch und Natur. So gilt auch die Lokomotive als Symbol für die Industrialisierung und damit der Generalisierung der kapitalistischen Produktionsweise.
»Der Tren Maya hat nichts mit uns Mayas zu tun«, sagt Melquiales, ein unabhängiger Reiseleiter der berühmten archäologischen Stätte Palenque in Chiapas, Südmexiko. Ich treffe ihn nach seiner letzten Tour. Der Tren Maya ist ein sogenanntes Megaprojekt. Der Bau ist seit Planungsbeginn heftig umstritten, steckt aber bereits mitten in der Umsetzung. Melquiales, den das Thema schon lange beschäftigt, möchte mir die Baustelle zeigen.
Das Schienennetz soll wichtige touristische Ziele im Südosten Mexikos miteinander verbinden. So könnten Tourist*innen etwa aus dem Karibikort Cancún schnell und auf direktem Weg die Pyramiden von Palenque, Chichen-Itzá oder das größte Biosphärenreservat Mexikos, Calakmul, erreichen.
Der »Tren Maya« soll abgelegene Gebiete besser touristisch erschließen
Das Projekt ist von enormer Größenordnung und betrifft die infrastrukturell bisher relativ unerschlossenen Bundesstaaten Chiapas, Campeche, Tabasco, Yucatán und Quintana Roo. Über die Förderung des Tourismus hinaus will die Regierung bei den mindestens 19 Stationen des Schienennetzes neue Modellstädte bauen - eine komplette regionale und wirtschaftliche Neuordnung mit vielen neuen Arbeitsplätzen ist geplant. Die mehr als 1500 Kilometer lange Bahnstrecke ist für den Transport von Gütern, lokaler Bevölkerung und Tourist*innen geplant. Für die Gleise wird mehr als ein Kilometer Breite benötigt. Dafür müssen viel Urwald und die Heimat einzigartiger Tierarten weichen. Die mexikanische Regierung verspricht den Anwohner*innen wirtschaftliche Entwicklung und bessere Lebensbedingungen. »Die Menschen im Südosten wurden schon immer im Stich gelassen. Nun sind auch sie mal an der Reihe. Deswegen kommt jetzt der Zug«, verkündet López Obrador feierlich wenige Monate nach seinem Amtsantritt Ende 2018. Ein Teil der auf fünf bis sieben Milliarden Euro geschätzten Kosten für das Projekt kommen vom Tourismusministerium (FONATUR), der Rest soll mit privaten Mitteln finanziert werden.
Know-how für das umstrittene Riesenprojekt kommt unter anderem aus Deutschland. Im Dezember letzten Jahres erhielt eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bahn, die Deutsche Bahn Engineering & Consulting, den Auftrag als sogenannter »Shadow Operator«, also Kontrollinstanz für die Planung des Bahnbetriebs. Für die Dienstleistungen in der frühen Projektphase bekommt das bundeseigene Unternehmen 8,6 Millionen Euro.
Melquiales und ich steigen zusammen ins Auto und fahren dort hin, wo die Bauarbeiten bereits in vollem Gange sind. Er will mir die Leute vorstellen, die direkt davon betroffen sind. Nachdem wir den Trubel der Stadt hinter uns gelassen haben, führt er mich auf ländlichen Straßen nordöstlich von Palenque in Richtung El Lacandón. »Je mehr Touristen kommen, desto mehr Touren verkaufen wir«, gibt Melquiales zu. »Aber der Zug ist mit unserer Kultur nicht vereinbar.« Er zeigt auf die vorbeiziehenden tropischen Bäume und Pflanzen und erzählt, wie die Mutter Erde verschiedene Gottheiten repräsentiert, die die Mayas verehren und schützen. Auf einmal lichtet sich der Wald - und da ist sie, die klaffende Baustelle: eine schnurgerade, breite Sandspur, auf der bald die Gleise verlegt werden. Ein paar Meter weiter grenzt ein kleines Häuschen direkt an die Baustelle. Don Carlos, ein schmächtiger Mann Ende 50, grüßt vom Gartenzaun und kommt uns mit seiner Machete entgegen. Er war gerade dabei, den Mais in seiner Milpa, ein für Mayas typisches Landwirtschaftssystem, zu knicken. Er spricht Tzeltal, eine der Sprachen der vor Ort lebenden Mayas. Melquiales übersetzt auf Spanisch. »Ich wohne hier mit meiner Familie seit mehr als 15 Jahren«, erzählt Don Carlos. »Irgendwann ging es los mit dem Bauen direkt vor unserem Haus.« Sie wurden nie gefragt, was sie davon halten, wenn künftig ein Hochgeschwindigkeitszug durch ihren Garten fährt. »Vor zwei Monaten haben sie erklärt, was hier passiert, aber da waren die Bagger schon da.« Ob sie das Grundstück bald komplett verlassen müssen, wissen sie nicht. »Die Bauarbeiten sollen aufhören, wir wollen den Zug hier nicht. Wenn wir hier wegziehen, verlieren wir auf lange Sicht alles, was wir noch haben.«
Viele indigene Gemeinden befürchten Vertreibung und den Ausverkauf der in Teilen noch unberührten Natur. In den betroffenen Gebieten stellen sie sich mit allen Mitteln gegen den Zug. Statt eines Versprechens für die Zukunft befürchten sie, dass das Projekt nur den Investoren zugutekommt. »Die großen Unternehmer kommen dann hierher und beschlagnahmen das Land für ihre eigenen Zwecke. Dass es seit Genrationen unser Zuhause ist, interessiert sie nicht.«
Verstoß gegen die ILO-Konvention über indigene Völker
Die Liste der Vorwürfe gegen das Bahnprojekt ist lang. Indigene Organisationen wie der Regionale Indigene und Populäre Rat von Xpujil sowie das Kollektiv Tres Barrios haben geklagt, weil sie die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO 169) verletzt sehen. Das Übereinkommen garantiert indigenen Völkern einen Anspruch auf eine Vielzahl von Grundrechten. Unter anderem müssen sie bei Maßnahmen, die sie berühren, konsultiert werden. Das sei hier zu spät und nicht detailliert genug erfolgt.
Andere Organisationen wie die Versammlung Múuch Xíinbal und das Kollektiv Chuun t’aan Maya zogen vor den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof: Neben dem Verstoß gegen Konsultationsnormen sind Umweltverträglichkeitsprüfungen und Analysen zu langfristigen Auswirkungen auf soziale und wirtschaftliche Strukturen nicht ausreichend untersucht, so die Gegner*innen des Projekts. Korrupte Verfahren stehen in der Kritik: Laut mexikanischem Bundesrechnungshof sollen mehrere Vergabeprozesse die Wettbewerbsbedingungen nicht erfüllt haben. Von insgesamt 33 Vertragspartnern seien 18 Verträge direkt vergeben und nur zwei öffentlich ausgeschrieben gewesen. Eine gründliche Prüfung der Kandidaten im Hinblick auf ihren Ruf und ihr Dienstleistungsportfolio sei ausgeblieben. Außerdem sei der Verbleib von umgerechnet sechs Millionen Euro ungeklärt, weitere Rechnungen ungerechtfertigt oder doppelt gestellt.
Viele der Mayas im Südosten Mexikos sind noch nicht vollständig abhängig von ihrer Lohnarbeit. Wenn es, wie in der aktuellen Covid-19-Krise, keine Arbeit gibt, wachsen in der Milpa Mais, Zucchini, Tomaten, Bohnen und Chilis, von denen sie leben können. Die Maya-Ruinen - ein beliebter Touristenort - waren wegen der Pandemie acht Monate geschlossen. Melquiales verlor von einem Tag auf den anderen seine einzige Einkommensquelle als Reiseleiter - staatliche Hilfen gab es keine. Ohne das Stück gemeinschaftlichen Landes, von dem seine Familie in der Zeit leben konnte, hätte er wegziehen müssen. So wie viele andere, die an die touristischen Küsten oder in die Peripherie der großen Metropolen ziehen, um einer bezahlten Arbeit nachzugehen.
Gerade die Frage nach dem Boden und wer ihn bewohnen und bearbeiten darf, ist zentral im Konflikt um den Maya-Zug. Seit der mexikanischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es die rechtliche Figur des sozialen Eigentums - so entstand der gemeinschaftliche Landbesitz, die Ejidos. Land im sozialen, kollektiven Besitz durfte seitdem nicht vermietet, verpachtet oder verkauft werden. Doch seit den neoliberalen Reformen der 90er Jahre ist es nun erlaubt, Land zu veräußern, wenn die entsprechende Gemeindeversammlung zustimmt. Diese Reform führt heute zu schweren Konflikten und Spaltungen innerhalb vieler Gemeinden. »Vertreter von Entwicklungsprojekten kommen in die Gemeinden und drängen sie zum Unterschreiben von Verträgen, ohne dass eine Versammlung stattgefunden hätte«, erklärt Marina Almeida, Juristin und Expertin auf dem Gebiet der Rechte indigener Völker in Lateinamerika. Bei den Regionen, die vom Bau des Tren Maya betroffen sind, handelt es sich zum großen Teil um Land in gesellschaftlichem Besitz. »Hier dürfte nicht einmal ansatzweise über ein Entwicklungsprojekt nachgedacht werden, ohne die Menschen vorher zu fragen, was sie brauchen und was für sie Entwicklung bedeutet. Doch dies ist auch hier wieder passiert.«
»Wir haben schon mehrmals Straßen blockiert.« Melquiales denkt, dass es eine Chance gibt, den Bau des Zuges zumindest streckenweise aufzuhalten. »Wir Mayas sind gut organisiert.« Der Nationale Indigenenrat, die Zapatistische Armee Nationaler Befreiung (EZLN) und sympathisierende Organisationen mobilisieren die Gemeinden, ihr Land und ihre Rechte zu verteidigen. Mit ihren Blockaden, den Klagen und der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit könnten sie erreichen, dass die Bauarbeiten ausgesetzt werden - den Bau verhindern werden sie wohl nicht. Und der Preis ist hoch: Wie es in lateinamerikanischen Kontexten immer wieder zu beobachten ist, werden Widerstand und soziale Proteste gegen Entwicklungsprojekte diskreditiert, kriminalisiert, Menschenrechtler*innen bedroht oder sogar ermordet - oder sie »verschwinden«.
Die mexikanische Armee soll den Zug betreiben
Der Tren Maya ist ein militärisches Geschäft: Die mexikanische Armee baut den Zug und soll ihn später betreiben. Mitte März dieses Jahres wurde verkündet, dass alle Einnahmen aus dem Tren Maya vollständig in Besitz des Militärs übergehen würden, um, so López Obrador, eine zukünftige Privatisierung zu verhindern. Die Verkündung dieser Nachricht löste landesweite Empörung aus - Oppositionelle befürchten eine drastische Militarisierung der Region und ein wirtschaftliches Erstarken des in unzählige Menschenrechtsverletzungen verstrickten Militärs. Der Präsident steht ohnehin schon in der Kritik, die Armee wirtschaftlich zu sehr zu bevorzugen. Das aktuelle Zugeständnis könnte die Korruption innerhalb der Institution noch begünstigen. Außerdem würden mit der Umleitung der öffentlichen Gelder Regelungen staatlicher Finanzplanung missachtet.
Carlos Slim, der zurzeit reichste und einflussreichste Unternehmer Mexikos, erhielt mit seinem Unternehmen Grupo Carso zuletzt den Auftrag zum Bau eines gesamten Streckenabschnitts. Zusammen mit einer weiteren Firma namens ICA, die auch mit dem Bau des Tren Mayas beauftragt ist, hatte Slim auch die U-Bahn-Linie gebaut, die am 3. Mai dieses Jahres einstürzte und mindestens 26 Menschen das Leben kostete. Die Anklage: Korruption, Pfusch und Vernachlässigung.
Einige Prozesse gegen das Projekt wurden bereits gewonnen, sodass es in den vergangenen Jahren zu streckenweisen Aufhebungen der Bauarbeiten gekommen ist. Erst kürzlich wurden für den dritten Streckenabschnitt im Bundesstaat Yucatán die Arbeiten gerichtlich gestoppt. Die Konsequenzen für die Natur seien nicht genau einzuschätzen, so die Richterin in Mérida. Sie gab den klagenden indigenen Gemeinden damit recht. Die Baustopps bedeuten für den mexikanischen Staat Schulden: Sie haben Verträge mit den inländischen und ausländischen Firmen einzuhalten.
Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, die sich aus zwei gegensätzlichen, sich ausschließenden Begriffen zusammensetzt. Der Name des Tren Maya könnte nicht passender gewählt sein, um das Zusammenprallen zweier gegensätzlicher Weltanschauungen zu beschreiben. Dem oxymorischen Konzept des Projekts liegt eine Ideologie des Profits zugrunde: Hier geschieht die Aneignung einer lebendigen Kultur, die zum reinen Mythos reduziert und so verleugnet und letztlich zerstört wird. Wie die polemische Geschichte des Tren Maya ausgeht, hängt schließlich auch damit zusammen, ob hierzulande toleriert wird, dass internationale Unternehmen wie die Deutsche Bahn sich an der Beseitigung kultureller und ökologischer Vielfalt im Südosten Mexikos bereichern. Die Beteiligung des staatlichen Unternehmens ist noch fragwürdiger, nachdem Deutschland kürzlich das Übereinkommen ILO 169 ratifiziert hat.
Melquiales verabschiedet sich fürs erste. Morgen früh geht es für ihn wieder zu den Ruinen, um den Tourist*innen dort eine einzigartige Erfahrung à la Indiana Jones zu bieten. Es stellt sich die Frage, ob es wirklich diese Tourist*innen sind, die im Süden Mexikos bessere Lebensbedingungen schaffen, oder ob die Menschen vor Ort künftig selbst entscheiden können, was sie unter Entwicklung verstehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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