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- Dieter Mann
Das weiße Hemd
Dem faszinierenden Theater- und Filmschauspieler Dieter Mann zum 80. Geburtstag
Eine wunderbare Vorstellung, sie träten noch mal an: wünschenswerte Wiedergänger - Deutsches Theater Berlin! Man sagt Mann und meint auch Esche, sagt Esche und meint auch Körner, sagt Körner und meint auch Piontek, sagt Piontek und meint auch Baur, sagt Baur und meint auch Franke, sagt Franke und meint auch Grosse, sagt Grosse und meint auch Böwe, sagt Böwe und meint auch Grashof oder Düren oder Hiemer oder Ludwig. Oder Keller oder Schorn, Wachowiak oder Grube-Deister. Namen wie Wörter aus dem Lexikon - einer Naturgeschichte des luxurierenden Da-Seins im Spiel. Ein Spiel, spannend, das im Osten stattfand und das ein dunkel umflortes Glück hinterließ: jenes Gefühl von etwas, das trägt. Vergangenheit: Vorm Teuersten stehst du wie vor Gräbern. Das Gedächtnis aber triumphiert: Unvergesslich! Am Abend auf der Bühne: Leiblichkeit. Jeder Auftritt erzählt von der Hoffnung auf - Bleiblichkeit.
Dieter Mann zum Beispiel. Er ist ein Paradebeispiel. Scharf, schnell, schnoddrig. Viktor Rosows Wolodja, Ulrich Plenzdorfs Wibeau, Gotthold Ephraim Lessings Tempelherr, Johann Wolfgang Goethes Clavigo und Tasso-Partner Antonio, Johannes R. Bechers Hörder, William Shakespeares Schillernde sowie Anton Tschechows Ironisch-Schwermütige.
Über 40 Jahre am Deutschen Theater in Berlin! Zoomen wir an diese Zeit noch einmal heran. Der Schmierige da (»Minna von Barnhelm«) ist im Lustspiel der Wirt, aber in dieser Funktion ein Bürgeranzapfer. Ein Spitzel tut so, als sei er Mensch. Lessing als Traditionsforschung, was deutsch war, ist, bleibt. Oder der Wehrhahn aus dem »Biberpelz«: blutleer, Beamter eben, sozusagen ein Para-Graf. Noch die Fingerspitzen züngelnde Peitschen. Das eiserne Gesetz seiner Rechtsprechung: Wenn du das Herz eines Menschen erreichen willst, musst du es brechen. Dann der Odysseus von Botho Strauß (»Ithaka«): ein Held als Gerechter und Verbrecher zugleich. Seine Kraft, die den Staat säubert, als große Frage an Geschichte und Gegenwart: An welcher Herzensstelle der Volksbefreier lauert nur immer wieder der neue Diktator?
Der Wallenstein, gespielt in Dresden: Inmitten der militärischen Erhitzungen und familiären Exaltationen war er ein Minimalist der Emotion. Leiden scheint ihm eine widerwärtige Regung zu sein. Alle Tatsachen sprechen gegen einen Feldherrn, nur sind sie halt nicht seine Sache. Vielleicht ist solche Ignoranz die wahre Freiheit, sie macht bei Mann sogar einen Mächtigen zum Menschen - vorher freilich will gestorben sein. Aus Worms, von den Nibelungen-Festspielen, blinkt Intrigant Hagen von Tronje herüber: Er ist der Soldat, der das Leben kennt, aber kein Kriegsende. So einer wird ruchlos aus bloßer Notwendigkeit, wird mörderisch aus Staatsfürsorge. Hier leidet ein Geist an seiner unbegabten Umgebung.
Dieser Künstler hat die tolle Gabe, Stücken die Stirn zu kühlen. Damit die Seele nicht gar zu sehr hüpft und aufrauscht, trägt sie bei ihm das Senkblei der Selbstbeherrschung. Die Herzkammern bleiben lichtdicht. Und noch in kleinsten Film- und Fernsehrollen erscheint er so, dass man nicht auf die Idee kommt, er werde bloß verwendet.
Einmal war er am Deutschen Theater ein Reisender. Bewegte sich, Platten hörend, den Erzähler des »Zauberbergs« spielend, in enorm gesteuerten Atemzügen durch Thomas-Mann-Sätze. Literatur als Bergwerk, es ging von Nebensatzkatakombe zu Nebensatzstollen, aus gestelzten Höhen in grollende Tiefen. Momente bezwingender Innigkeit, so hochkultiviert, so geistsicher, so spiellocker: das bezwingende Solo »Fülle des Wohllauts«.
Dieter Manns Biografie wurde in zweifacher Hinsicht von jener Sinnbildlichkeit getroffen, bei der Lust und Last eine zerrende Balance eingehen: der Arbeiter als Künstler und der Künstler als Arbeiter. Es war die Arbeit an einer Kultur, die historisches Erbe und neue soziale Wirklichkeit zu verbinden suchte. Und zu verbinden wusste, meisterlich. Der Berliner Acht-Klassen-Schüler, Jahrgang 1941, hatte Dreher gelernt, ging zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät. Poesie, Theater waren ihm früh eine hohe Festlichkeit. Er erzählt, er habe als junger Mensch dann, wenn er zu Hause eine Schallplatte hörte, nicht geraucht, sich ein weißes Hemd angezogen. Das ist ein schönes Indiz für eine ehrfürchtige Annäherung an Kunst. Die Himmelsmacht.
Der Schüler und Gefährte von Wolfgang Heinz und vor allem Friedo Solter war von 1984 bis 1991 Intendant am Deutschen Theater Berlin. Welch eine Zeit! Der Anfang: Gerade war ein »Faust II«-Projekt gescheitert (Regie: Solter, Titelrolle: Alexander Lang, Mephisto: Dieter Mann) und das Schauspielerensemble ob der Positionskämpfe in Lager zerrissen. Wolfgang Heinz, seelisch tief gekränkt, hatte seinen Intendantenposten aufgekündigt. Sein Nachfolger Rolf Rohmer, ein Wissenschaftler, musste wegen allumfassender Fremdheit in der Theaterpraxis bald wieder gehen. Dieter Manns Intendanz war ein Sieg des Ensembles - dessen künstlerische Anziehungskraft so legendär war wie sein Abstoßungswille gegen »Eindringlinge« von außen.
Das Ende dieser Intendanz: brodelnde, triste DDR-Endzeit; aber Frank Castorf und Heiner Müller, Thomas Langhoff und Rolf Winkelgrund waren am Haus! Eine Wende, nicht ohne Wunden, doch Manns Leitung muss als sehr klug, uneitel, konzentriert, unspektakulär eingestuft werden. Wahrscheinlich bestand diese Klugheit wesentlich darin, die eigene Moral zu behaupten, aber sie für keinen Augenblick als allgemeines Gesetz den anderen aufzudrängen. Das Deutsche Theater war hohe Ebene. Hohe Ebenen sind klein. Also: Gedränge. Jede Bühne ist auch ein Boxring.
Dieter Mann, dieser Sprachvirtuose - er kann ganze Stücke zwischen seinen Lippen zusammenpressen, bis sie ihren Wesensschrei ausstoßen. Er schnürt zusammen, wo andere ins Fließen kommen. Er malmt den Text nicht; ein kurzer Biss quasi, der genügt schon, und die Sprache ist gepackt in ihrem Kern. Und dann springen die Sätze spitz, durchschlagend wie Funken von den Zähnen ab. Oder er spuckt das Wort grinsend aus wie einen Dartpfeil: Das sind bohrende Grüße aus einem Gletscherbezirk. Aber in den ernsten, strengen Verhärtungen seines Gesichts und den Furchen um seinen Mund - da hat auch Komik ihren Ort. Und wenn die Züge verheißungsvoll entspannt fließen, dann ahnt man auch die Verletzlichkeit der Gestalten.
Wo Leidenschaft nur ein bisschen mitspielt, hat sie schon verloren. Wo sie alles sein will, auch. Wer dem Publikum nur Selbstbestätigung gibt, zerstört das Theater. Wer dem Publikum die Selbstbestätigung nur immer verweigert, zerstört das Theater auch. Irgendwo dazwischen - wo genau, bleibt ein Geheimnis - liegen die kostbaren Quellen, aus denen Schauspieler wie Dieter Mann entstehen. Arbeit, die hohe Kunst wird. Ja, Zauber! Aber, so Mann: »Am Ende, ganz am Ende fällt der Vorhang, und dahinter wird aufgeräumt.«
An diesem Sonntag wird Dieter Mann, Ehrenmitglied des Deutschen Theaters, 80 Jahre alt.
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