Reise durch die Nacht
In Dresden lässt Sebastian Hartmann »Das Buch der Unruhe« von Fernando Pessoa zum somnambulen Digital-Theater-Marathon werden
Schummrig beleuchtet wird der Lichthof des Dresdener Albertinums zur Kulisse einer nächtlichen Stadt. Die klaffenden Fensterreihen, die bei Tag zum Blick einladen, schauen nun zurück - alle Passanten als Fremde beäugend. Runde um Runde läuft darin Schauspieler Torsten Ranft. Die immer wechselnde Perspektive der Kamera beginnt die architektonische Begrenztheit des Raums zu lockern. Begleitet wird die gut vierzig Minuten andauernde »Phase des Zur-Ruhe-Kommens«, die den Schlaf einleitet, von den monoton ratternden Geräuschen eines Zuges. Sie bereitet eine Reise durch die Nacht vor, in der die Träume und Alpträume der Moderne offenen Auges durchwacht werden können.
Gemeinsam mit dem laufenden Darsteller übertritt das Publikum die Schwelle des zweckgebundenen Erfahrens. Zeit und Raum weiten sich, bis sie sich in- und übereinander falten. Nach 25 Minuten wird das rastlose Bild zum ersten Mal durchbrochen. Eine junge Frau, ganz in weiß gekleidet, murmelt entrückt zu sich selbst. Hinter ihr erscheint eine zweite, ihr gealterter Zwilling. Sie teilen nicht die Sphäre des vorangegangenen Bildes, doch sie beziehen sich aufeinander. Die Bewegung wird zum Entgegen- oder Fortlaufen, die Frauen zu hoffnungsvoll und vergeblich Wartenden.
Diese nach einer assoziativen Traumlogik zu verstehende Sequenz eröffnet die Livestream-Theater-Adaption von Fernando Pessoas Roman »Das Buch der Unruhe«. In knappen acht Stunden wabern die Textfragmente des portugiesischen Schriftstellers zwischen den Traumbildern, die der Regisseur Sebastian Hartmann in der theatralen Installation arrangiert. Der eine Nacht umspannende Livestream des Staatsschauspiels Dresden (in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden) ist gegliedert in die Phasen des Schlafs. Ruhige Abschnitte im Zeitraum des Tiefschlafs werden von den REM-Phasen abgelöst.
Die erste der REM-Phasen, in der Geträumtes erinnert werden kann, zeigt eine Frau, die an Schaufenstern vorbeigeht. Sie ist eine Flaneurin, die in der Nacht als Fremde und Entfremdete sich selbst gegenübersteht. Die eben noch beleuchtete, den Blick anziehende Traumwelt der Warenauslagen liegt nun verblasst im Dämmerlicht der Straßenlaternen. In den schwarzen Schaufensterscheiben spiegelt sich die einsame Passantin, ihr entstelltes Äußeres folgt ihr durch die Nacht. Dazu Pessoas dichter, poetischer Text: »das bin ich: Einer, der an allem vorübergeht - selbst an meiner eigenen Seele -, ich gehöre zu nichts, ich wünsche nichts, ich bin nichts - abstrakter Mittelpunkt unpersönlicher Wahrnehmungen, zu Boden gefallener, sehender Spiegel, der Vielfalt der Welt zugekehrt.« Im Traum (wie im Rausch) wird das in Scherben liegende Ich sichtbar. Entsetzlich stellt sich dies in einer qualvoll langen Sequenz dar, in der sich die Gestalt des Schauspielers Simon Werdelis in grotesken Bewegungen entmenschlicht. Vor dem Hintergrund eines live an diesem Abend vor der Kamera gemalten Bilds - ein Wald, der hier zum Lichtfenster wird - ersteht er auf. Seine schwarze Silhouette bewegt sich spinnenartig und fällt qualvoll immer wieder zusammen. Dann liegt er wie ein Käfer auf dem Rücken. Seine Beine strampeln hilflos und ungelenk in der Luft.
Wie in Xavier Le Roys prägender Solo-Performance »Self unfinished« von 1998 wird hier statt dem ganzen Körper der zerstückelte Leib zum Material des Tänzers. Das spielerische Austesten und Verrenken der Glieder wirkt erschütternd, verweist es doch auf eine sich im Traum ankündigende Dimension des traumatischen Realen: den eigenen fragmentierten Zustand.
Mit dem Fortschreiten der Nacht bröckeln die Sinnzusammenhänge. Überblendungen von Tanz, Sprache, Musik und die Animationen des bildenden Künstlers Tilo Baumgärtels, den eine lange Zusammenarbeit mit Hartmann verbindet, fördern das Gefühl von Desorientierung und den sinnlichen Sog, der auch bei lang ausgespielten Sequenzen erhalten bleibt. Wenn nach fünfeinhalb Stunden der Stream vom Schwarz-weiß-Bild in Farbe übergeht, hat sich das Zeitempfinden vollständig aufgelöst. Im halbwachen Zustand erscheinen die Bilder eingebettet in Ewigkeit. So entstehen im verschwommenen Kamerabild aus den von innen leuchtenden Kostümen, gestaltet von Adriana Braga Peretzki, Konstellationen am Sternenhimmel, die durch die Überblendung der Bilder im Universum schweben.
Die nach »Lear/Die Politiker« und »Der Zauberberg« dritte Inszenierung Hartmanns, die als Livestream zur Aufführung kam und wie anderen beiden Arbeiten eigens für dieses Medium konzipiert wurden, verbindet die Mittel des Films mit der Live-Erfahrung des Theaters. Das Publikum, das sich zunehmend ausgedünnt im Chat austauscht, und die Schauspieler*innen durchwachen die Nacht gemeinsam. Umso stärker wirkt es, wenn Ranft nach siebeneinhalb Stunden Traum und Wahn im Albertinum abermals zu laufen beginnt, um damit das Erwachen einzuleiten.
»Das Buch der Unruhe« ist eine Inszenierung, die sich einschlummernde Zuschauer*innen wünscht. Nicht, weil das Gezeigte so öde wäre, sondern weil sich die Eindrücke, wenn sie den Schlaf durchdringen, erst entfalten können. So formulierte auch Pessoa über sein Schreiben: »Geträumt wäre es vollkommen; geschrieben tritt seine Unvollkommenheit zutage«. Hartmann führt die Ideen des Autors zurück ins Träumen.
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