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Der Krieg hat ein weibliches Gesicht
Wie Larissa Fjodorowna fernab der Front den Krieg erlitt und warum sie dennoch einen Deutschen heiratete
Die Kanonen schweigen, aber jede Nacht träume ich Schreckliches, aus meiner Jugend an der Sewerni-Sapadni Front, der Nord-Westlichen Front«, singt Larissa Pagel, geborene Fjodorowna, mit hoher, etwas zittriger Stimme. Es geht ihr sichtlich nahe. Das Lied habe ihr Vater oft gesungen, nach dem furchtbaren Krieg, der am 22. Juni 1941 über die Völker der Sowjetunion hereinbrach. Larissa berichtet:
Ich bin 1937 geboren, in einem Städtchen namens Slavgorod im Altai-Gebiet, ein massives Gebirge, das sich von Russland über Kasachstan und die Mongolei bis nach China zieht. Wir waren Tausende Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt. Und doch war der Krieg verdammt nah. Mein Vater wurde gleich in den ersten Tagen eingezogen, obwohl er schon 41 Jahre alt war. Er war Automechaniker und Kraftfahrer, meine Mutter Verkäuferin und Buchhalterin.
Kurz bevor Vater in den Krieg musste, hat er uns, meine Mutter und meine drei Jahre ältere Schwester, aufs Land gebracht, in eine kleine Siedlung mit acht Häusern in der Steppe, nicht weit weg von der kasachischen Grenze. Dort haben wir fünf Jahre gelebt, bis zum Kriegsende. Abseits der großen Schlachten und Massaker. Das Gesicht des Krieges in unserem Dorf war weiblich - nur Frauen und Kinder, ein einziger männlicher Greis. Die Männer, Väter, Söhne, Brüder waren weit weg, irgendwo. Wenn Post aus der Ferne kam, bangten die Frauen. Ein Lebenszeichen oder eine Todesanzeige? Und wenn eine Frau einen Brief von ihrem Mann oder Sohn erhielt, haben sich alle um sie versammelt, mitgelesen und sich mit ihr gefreut. Boschemoi, mein Gott, die Glückliche! Was schreibt er? Und weiß er etwas von den Unsrigen? Die traurigen Benachrichtigungen nahmen rasch zu. Es gab in unserem Dorf eine Frau, die nur Todesanzeigen erhielt. Nacheinander. Von ihrem Mann und ihren drei Söhnen. Sie ist dann vor Kummer gestorben.
Obwohl wir weit weg vom Krieg lebten, haben wir auch unseren Beitrag zur Verteidigung der Heimat geleistet. Wir haben 4000 Schafe geweidet, schwarze und weiße. Fleisch, aber auch wärmende Mäntel und Tschapkas für die Soldaten an der Front. Wenn wir Kinder Kriegsfilme mit Rotarmisten in Winteruniform sahen jubelten wir: »Das sind unsere Schafe!« Wir waren mächtig stolz.
Nein, Hunger haben wir nicht gelitten. Wir haben vieles selbst angebaut. Aber natürlich war es keine normale Kindheit. Meine erste Schokolade habe ich erst mit zehn Jahren genossen. Im Krieg musste man für ein Glas Zucker auf dem Markt ein Kilo Butter hergeben. Für uns Kinder war schon eine Süßkartoffel eine Delikatesse. Aber den Finger in das Glas Zucker tauchen und abschlecken zu dürfen, war der größte Genuss.
Hatte ich Angst um meinen Vater? Ich weiß es nicht. Ich war vielleicht noch zu jung. Ich war acht, als wir über die Faschisten gesiegt haben. Große Freude. Aber auch große Trauer. Wir hatten Glück: Vater kehrte heim. 1946. Er hat uns Kindern nicht viel vom Krieg erzählt. Bei Familienfesten berichtete er ab und an über seine Erlebnisse. Es war früher nicht üblich, dass Kinder und Erwachsene an einem Tisch saßen. Wir haben aber hinter der Tür gelauscht.
Mein Vater hat Munition in die vordersten Linien der Belorussischen Front gefahren. Belorussische Front bedeutet nicht, dass da nur Belorussen gekämpft haben. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum im heutigen Deutschland. An der Ukrainischen Front haben auch nicht nur Ukrainer gekämpft. 1943 traf eine Fliegerbombe den Lkw, den mein Vater fuhr. Er hat immer aus Vorsicht die Fahrertür offen gelassen. Dadurch schleuderte ihn die Druckwelle der Detonation hinaus. Aber er wurde von Splittern schwer verletzt, lag mehrere Monate im Lazarett und konnte auf einem Ohr nicht mehr richtig hören. Deshalb bekam er einen neuen Einsatzbefehl, fuhr dann einen höheren Offizier - in einem britischen Jeep, einem Willy.
Wenn ich an meinen Vater denke, dann denke ich weniger an den Krieg als an seine Rezitation der Poeme von Sergej Jessenin, seinem Lieblingsdichter. Er hat ihn ebenso wie Wladimir Majakowski und auch Lenin und Trotzki in Petersburg noch selbst reden hören. Vater war 17, als dort die Revolution ausbrach. Er ist dann in den Bürgerkrieg gezogen, mit den Roten gegen die Weißen. Durch die Ukraine ans Kaspische Meer, nach Turkmenien bis an die afghanische Grenze, nach Kuschka, den ehemals südlichsten Punkt der Sowjetunion. Ich habe ein Foto von meinem Vater aus dieser Zeit: der Kopf glattrasiert wie bei Majakowski, aber obenauf eine Kosakenmütze - bei über 40 Grad plus! Mein Vater ist 1993 gestorben. Er hat noch den Zerfall der Sowjetunion erlebt. Erlitten. Mein Vater war Russe, meine Mutter Ukrainerin. In meiner Brust schlagen zwei Herzen, ein russisches und ein ukrainisches. Es zerreißt mir das Herz, dass in der Ukraine Krieg tobt.
Ja, ich habe einen Deutschen geheiratet. Warum auch nicht? Wir haben uns beim Studium an der Handelshochschule »Friedrich Engels« in Leningrad kennengelernt und ineinander verliebt. Zehn Jahre nach dem Krieg. Die Liebe fragt nicht nach der Nationalität. Es fügt sich. Wir haben 1961 in Leningrad geheiratet. Ich bin mit Ronald in die DDR gegangen. Er arbeitete im Großhandel, ich als Bibliothekarin. Mein Mann starb vor drei Jahren. Ich habe zwei Söhne und drei Enkel, auf die ich sehr stolz bin.
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