Tanz dich frei

In der Serie »Physical« befreit sich eine Frau per Aerobic von den Fesseln der biederen 80er Jahre

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Die 80er Jahre waren ein nachhaltiges Jahrzehnt. Während heute die 50er endlich in der stilistischen Mottenkiste verschwinden, die 60er allenfalls Farbkleckse hinterlassen, die 70er eher Tonfragmente und die 90er ohnehin nur als ironisches Zitat taugen, schaffen es Stil & Ästhetik der Ära Reagan und Kohl, Madonna und Falco, NDW und Schulterpolster in jede Jugendkultur. Leider geil eben! So wie - zumindest rückblickend - Aerobic.

Wer erstmals grobkörnige Videos dieser rhythmischen Sportgymnastik sieht, kann womöglich kaum glauben, dass ulkig verkleidete Menschen darauf bereitwillig aggressiv gut gelaunte Marschbefehle befolgen, wofür sie sogar Geld gezahlt haben. VHS-Kassetten zum Beispiel, die 1982 selbst unbespielt bis zu 50 Mark wert waren - von bespielten der Vortänzerinnen Sidney Rome oder Jane Fonda ganz zu schweigen.

Sheila Rubin ist die Hauptfigur der zehnteiligen Tragikomödie »Physical« und sie ist eine der fantastischsten Filmfiguren eines der fantastischsten Fernsehformate einer ohnehin schon fantastischen Fernsehepoche. Gefangen in ihrer scheußlichen Ehe mit dem angehenden Lokalpolitiker Danny, versucht sie dem wachsenden Frust durch noch viel scheußlichere Fressattacken zu entfliehen. Ein Teufelskreis, der ihren Selbsthass eher noch verschlimmert - plötzlich allerdings Rettung verspricht.

Denn kurz, nachdem sich die desperate Hausfrau in einem Motel drei Burger mit Pommes reinstopft und anschließend von der Bank erfährt, dass ihre Dinners for One ihr Familienkonto ins Minus getrieben haben, verfolgt sie ihr heimliches Vorbild, Model Bunny (Della Saba), in deren Tanzstudio, wo die coole Blondine Aerobic-Kurse gibt. Hier hüpft sich Sheila fortan die beginnende Depression aus dem Leib, steigt zur Lehrerin auf und kann Bunnys Freund Tyler, der im Hinterzimmer Pornos dreht, davon überzeugen, auf Aerobic-Videos umzusteigen.

Bis zum Durchbruch der neuen Trainingsmethode auf dem hippen Verbreitungsweg Videokassette dauert es zwar noch ein paar Folgen. Schon hier kreiert Showrunnerin Anni Weisman allerdings jene Art von Späterweckungsgeschichte aus der bürgerlichen Mitte Amerikas, die seit »Desperate Housewifes« Einschaltquoten garantiert. Trotz der Besetzung mit Rose Byrne wäre es zu kurz gedacht, die Serie nur aus Sicht der äußerlich irritierend schönen, innerlich verbittert zynischen Sheila zu denken. Das Interessanteste an »Physical« ist nämlich keine weitere weibliche Serienheldin auf der Flucht vor einer männlich dominierten, also unvermindert frauenfeindlichen Mehrheitsgesellschaft. Origineller sind die Nebenschauplätze im offenen Vollzug der lebenslangen Beugehaft namens Ehe: Zellen, Wärter, Notausgänge. Erstere sind mal kleinbürgerlich beengt, mal großbürgerlich überfrachtet, aber stets ein bisschen zu extrem für ein glückliches Leben ohne Zwang oder Mauern. Letztere bieten daher keine wahre Erlösung, sondern allenfalls Ersatzbefriedigung. Und zwar vor allem, weil die Wärter dazwischen zwar am längeren Hebel sitzen, aber miserabel bedienen.

Allen voran der gescheiterte Politikwissenschaftler Danny, dem Rory Scovel eine Männermischung aus Größenwahn und Profilneurose verleiht, die sich bis heute in Figuren wie Bernd Stromberg bis Friedrich Merz wiederfindet. Doch auch die anderen Schöpfungsherren vom Hobby-Regisseur Tyler (Lou Taylor Pucci) über Dannys Wahlkampfmanager Jerry (Geoffrey Arend) bis zum VHS-Verkäufer Breem (Paul Sparks) stehen Sheilas Selbstermächtigung geistig schlicht im Weg, ohne zu merken, dass ihr Zug langsam aber stetig abfährt.

Während Sheila ihrem Gatten dauernd Schwerlasten wie das Kind oder die Einkäufe trägt, serviert er seiner Götterbotin vergiftetes Lob à la »du bist der Bass hinterm Lied meines Erfolgs: kaum zu hören, aber unerlässlich«. Wie sehr er sich da doch täuscht, wird mit jeder Sekunde dieser 30-minütigen Lehrstunden in Sachen Empowerment deutlicher. Und bis zum absurden Finale auf bitterböse Art amüsant.

»Physical« auf Apple-TV+

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.