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- »Erotica«
Bei Goethe wurde alles offen und frei
Sie wurden bis in die 1990er Jahre zensiert: Goethes »Erotica« gibt es nun in einer bibliophilen, prächtig illustrierten Ausgabe
Diesmal war er nicht gern in Venedig. Verflogen die Begeisterung von einst, das Entzücken, als er im September 1786 bewundernd durch die Lagunenstadt gelaufen war. Jetzt, im April 1790, wäre er lieber zu Hause bei Frau und dreimonatigem Sohn. Stattdessen wartete er wochenlang auf die Herzoginmutter Anna Amalia, die er nach ihrer ausgedehnten Italienreise nach Weimar begleiten sollte. Er fror, er klagte über das Wetter, die Einsamkeit und die Einheimischen, die den Fremden das Geld aus der Tasche zogen, aber er habe, schrieb er an Caroline Herder, »auch gesehen, gelesen, gedacht, gedichtet, wie sonst nicht in einem Jahr«. Hauptsächlich war Johann Wolfgang Goethe damit beschäftigt, »Venezianische Epigramme« zu schreiben. Die ersten waren noch in Weimar entstanden, nun kamen, im antiken Maß der Distichen, weitere hundert dazu, Sentenzen, Sprüche, pointierte Verse, bissige Gedichte, darunter viele erotische Anspielungen und sexuelle Direktheiten, manches so anstößig, dass er es lieber in der Schublade versteckte.
Die Epigramme erschienen erstmals in Schillers »Musenalmanach« für 1796. »Ob alle die Zensur passieren«, hatte Wilhelm von Humboldt schon vorher geäußert, »steht dahin.« Der Berliner Zensor indes war gnädig. Er ließ die Sammlung passieren. In Wien dagegen verbot man gleich den ganzen Almanach, und selbst Goethes Bewunderer waren überzeugt, dass der Dichter hier allzu sorglos zu Werke gegangen war. Später, 1885, als Weimars Großherzogin Sophie nach dem Tod des letzten Goethe-Enkels die umfassendste Ausgabe der Werke, Tagebücher und Briefe in Auftrag gab, ein Projekt von nationaler Bedeutung, gerieten die Erotica unter die Argusaugen von Regentin und Herausgebern. Sie hatten dafür zu sorgen, dass nichts in dieser gewaltigen, am Ende 143 Bände umfassenden Edition Platz fand, was »das Ansehen Goethes und seiner Familie beschädigen« konnte.
Es gab in den Aktenmappen, Briefschaften, Schreibheften und Blättern, die in Koffern und Waschkörben ins Schloss gebracht wurden, manches, was beim Sichten des Erbes für gelindes Entsetzen sorgte (oder schon von den Enkeln verstümmelt worden war). Die Hofdamen rückten mit Federmessern und Schere den »Venezianischen Epigrammen« zu Leibe, radierten, kratzten oder schnitten anstößige Stellen weg, das (völlig harmlose) Gedicht »Das Tagebuch«, das sogar heute noch in der weitverbreiteten Hamburger Ausgabe fehlt, wurde nur zögernd in späteren Nachtragsbänden der Sophien-Ausgabe von den Auslassungen befreit. Zwei Hefte Erotica und Priapeia blieben gleich ganz unter Verschluss, und manch prüder Editor wollte nicht einmal die Zeile »Daß dir werde die Nacht zur schöneren Hälfte des Lebens« aus »Herrmann und Dorothea« gelten lassen. Kaum zu glauben: Eine Sammlung der erotischen Gedichte Goethes, die Obszönes nicht ausspart, gibt es erst seit dreißig Jahren. Sie erschien 1991 in einem Insel-Taschenbuch.
Die Erotik, schrieb dort Herausgeber Andreas Ammer, sei für Goethe ein Mittel zum Zweck gewesen, die Frau eine Quelle der Inspiration. Er liebte, »um sich in sein Werk zu ergießen«. Das Motiv der Liebe, sagt dagegen Jens-Fietje Dwars, der in seiner noblen Edition Ornament (Quartus-Verlag) gerade eine neue und noch umfassendere Erotica-Präsentation vorgelegt hat, durchzieht und belebt das Werk des Dichters von Anfang an. Das fantastisch schöne, von Gerd Mackensen illustrierte Buch berücksichtigt deshalb auch nicht bloß Verse und Strophen, die lange verstümmelt oder unterdrückt waren, sondern zeigt alle Facetten des Erotikers Goethe. Vorn die frühen Liebesgedichte, darunter das berühmte »Willkommen und Abschied« und das »Heidenröslein« (das nicht von Liebe, sondern von Schmerz und Gewalt spricht), am Schluss eine Szene aus der Klassischen Walpurgisnacht des »Faust II«. Dazwischen, klug ausgewählt und gegeneinandergesetzt, Deftiges aus dem Frühwerk, das derbe Personenverzeichnis der nie realisierten Farce »Hanswursts Hochzeit«, diesem »Gipfel von Mutwillen«, dem Publikum, wie Goethe wusste, nicht zumutbar, »Römische Elegien« und unterdrückte »Venezianische Epigramme«, die Paralipomena zur Walpurgisnacht (»Seid reinlich bei Tage / Und säuisch bei Nacht«), Gedichte aus dem »West-östlichen Divan« sowie das »Tagebuch«, die Verserzählung von einem misslungenen Liebesabenteuer, die manchen Herausgeber, von Siegfried Unseld einst in einem großen Aufsatz dokumentiert, zu hartnäckigen und lächerlichen Eingriffen zwang.
Erotische Anzüglichkeiten gab es in der Dichtung schon, als Goethe zu schreiben begann. Die Rokoko-Kultur hatte mit der Prüderie Schluss gemacht, aber sie gab sich verspielt wie bei Wieland, hielt sich ans Filigrane, mied das Direkte. Bei Goethe wurde alles offen und frei. Weder versteckte er seine Gefühle noch zwang er die Sprache ins Joch der Schicklichkeit. Hier, in diesem Band, kann man sehen, wie er Liebe und Sexualität, der Kirche, den scheinheiligen Hütern von Sittlichkeit und Wohlverhalten zum Trotz, immer wieder feierte, wie er in knappen Versen sogar den Zusammenhang von Sex und Macht kenntlich machte, am radikalsten wohl im Satansauftritt der »Faust«-Entwürfe: »Euch gibt es zwei Dinge / So herrlich und groß / Das glänzende Gold / Und der weibliche Schoß. / Das eine verschaffet / Das andre verschlingt / Drum glücklich wer beide / Zusammen erringt.« Es hat sehr lange gedauert, bis solche Verse aus dem Nachlass hier und dort gedruckt werden konnten. Viel lieber wurde alles irgendwie Anstößige, was zum Weimarer Klassiker vermeintlich nicht passte, weggelassen.
Unter den Goethe-Büchern der letzten Zeit ist dieses Buch etwas Besonderes. Es ist in allem, von der Auswahl über Nachwort und Anmerkungen bis zur Ausstattung, ein Werk von Jens-Fietje Dwars und verschafft uns nicht nur einen überraschenden Blick auf den Dichter, sondern ist auch, bibliophil ausgestattet, besonders schön geworden: schwarzes Ganzleinen mit handgeleimter Deckelillustration, rote Vorsatzblätter, exzellenter Druck auf dickerem Papier und vom thüringischen Maler und Grafiker Gerd Mackensen mit ausdrucksstarken Zeichnungen bereichert, die meisten farbig und ganzseitig. Mackensen, anders als Max Schwimmer, der vor Jahrzehnten für den Verlag der Nation mit zartem Strich die »Römischen Elegien«, die »Venezianischen Epigramme« und »Das Tagebuch« schmückte, »illustriert« nicht. Er gibt sich expressiv, schwungvoll, bemerkenswert einfallsreich und liefert einen erstaunlich eigenwilligen, imposanten Bildkommentar zu den versammelten Texten.
Johann Wolfgang Goethe: Erotica, hg. und gestaltet von Jens-Fietje Dwars, mit Zeichnungen von Gerd Mackensen. Edition Ornament im Quartus Verlag, 192 S., geb., Normalausgabe 39,90 €, 2 Vorzugsausgaben mit signierten Lithografien im Schuber 120 €.
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