- Politik
- Justizvollzug in Ostdeutschland
Jahreszeiten hinter Gefängnismauern
In Zwickau bauen Sachsen und Thüringen eine Justizvollzugsanstalt, in der Alpakas und Bäume zur Resozialisierung beitragen sollen
In der neuen Justizvollzugsanstalt Zwickau sind derzeit noch Tage der offenen Gefängnismauer. Zwar zieht sich die Einfriedung des künftigen Knasts über viele hundert Meter bereits lückenlos und Respekt einflößend durch das Gelände: sechs Meter hoch; glatter Beton ohne jede Unebenheit und mit einer Wulst entlang der Mauerkrone, die später kein Arm und kein Wurfanker umfassen soll. Dort, wo sich in Zukunft das Tor der Anstalt befinden wird, sind aber drei Mauerelemente vorerst beiseite gestellt. Noch ist das Gefängnis, das Sachsen und Thüringen auf dem Areal eines früheren Reichsbahnausbesserungswerks gemeinsam errichten, im Bau. Betonmischer rollen über staubige Pisten, neben denen die Hafthäuser gerade erst aus dem Boden zu wachsen beginnen. Gitter findet man bislang höchstens in Form von Armierungseisen. Und die rund 150 Bauarbeiter, die innerhalb der Mauer arbeiten, gehen jeden Abend nach Hause.
Wenn die Justizvollzugsanstalt (JVA) im Jahr 2024 fertig ist, werden hier 820 Männer leben, von denen die meisten monate-, wenn nicht jahrelang nicht nach Hause gehen; nur 90 Plätze dienen dem offenen Vollzug. Hinter den Zwickauer Mauern werden Untersuchungshäftlinge ebenso sitzen wie Straftäter, die zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt wurden. Es ist ein Neubau, wie ihn die beiden Freistaaten dringend benötigten, sagt Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne). Häftlinge sollten möglichst nahe an ihrem Wohnort untergebracht werden. Dafür fehlten aber in Westsachsen Plätze. Gefängnisse in Plauen, Chemnitz und Stollberg wurden aus Altersgründen geschlossen. In Zwickau wird eine im Jahr 1899 errichtete JVA in der Innenstadt zwar noch betrieben. Von außen sei der historische Klinkerbau auch ganz ansehnlich, sagt die in der Stadt gebürtige Ministerin. Innen sieht es aber anders aus. Die Zellen müssen mit jeweils zwei Häftlingen belegt werden, die baulichen Anlagen sind verschlissen: »Das ist nicht das, was wir unter menschenwürdiger Unterbringung verstehen«, sagt Meier.
Im neuen Gefängnis soll alles besser werden. Die Häftlinge werden in Einzelzellen mit elf Quadratmetern Fläche leben, die jeweils über eine Sanitärzelle verfügen und zu überschaubaren »Haftgruppen« angeordnet sind. Sie befinden sich in sechs Hafthäusern, die von zwei Gebäuderiegeln mit Werkstätten, Küche und Schulungsräumen gerahmt werden und um eine »grüne Mitte« angeordnet sind, sagt Dörthe Kruse, Projektleiterin beim mit dem Gefängnisbau beauftragten Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement (SIB). In der »grünen Mitte« befinden sich später auch die Höfe für den Freigang: »Das ist ein guter Punkt für das Vollzugsklima«, sagt Kruse. Und es wird nicht nur Wiese innerhalb der Anstaltsmauer geben, ergänzt Jürgen Vercrüße, der Baureferent im sächsischen Justizministerium. Auch Bäume würden innerhalb der Mauern angepflanzt. »Sicherlich keine hohen Pappeln«, betont er. Es seien aber gezielt Bäume ausgewählt worden, die blühen, Früchte tragen und deren Laub sich färbt: »Es ist wichtig, dass die Häftlinge bewusst Frühling, Sommer, Herbst und Winter erleben können.«
»Die modernste JVA Deutschlands«
Dass es in einem Gefängnis Grünanlagen oder Bäume gibt, ist keine Selbstverständlichkeit; auch nicht bei neu errichteten Haftanstalten. Vercrüße, der seit 1996 im Dresdner Ministerium arbeitet, hat auch den Bau der JVA Hammerweg in Dresden betreut, in der auf vermeintlichen Zierrat komplett verzichtet wurde. Teils drückt sich in dieser Art Bau deutlicher der Charakter des Gefängnisses als Strafanstalt aus, teils gab es ökonomische Gründe: Grünanlagen beanspruchen zusätzliche Fläche, die Geld kostet. In Zwickau hat man sich anders entschieden, obwohl dort die Kosten ein sehr heikler Punkt sind. Als 2014 der Staatsvertrag für den Neubau unterzeichnet wurde, gingen die Länder von 150 Millionen Euro Bausumme aus. Inzwischen rechnet man mit 235 Millionen. Gerade explodieren die Baupreise, so dass weitere Mehrkosten zu befürchten sind.
An der »grünen Mitte« hält man trotzdem fest. Sie ist eines von vielen Elementen, die das Gefängnis in Zwickau nach Ansicht von Thüringens Justizminister Dirk Adams einmal zur »modernsten Haftanstalt Deutschlands« werden lassen sollen. Entscheidendes Kriterium für derlei Modernität, fügt der Grünenpolitiker hinzu, sei, inwieweit die JVA ihre Insassen auf die Zeit nach der Haft vorbereite. Guter Vollzug, sagt er, bedeute, dass »nicht nur eine Strafe verbüßt, sondern dass die Häftlinge auf ein straffreies Leben nach der Zeit im Gefängnis vorbereitet werden«.
Ideen dazu, wie das geschehen kann, gibt es in Zwickau viele. Adams verweist auf viele Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten: Insassen sollen unterschiedliche Schulabschlüsse erwerben, Berufe erlernen oder in Werkstätten tätig sein können. Bisher gebe es derlei Angebote in Thüringer Gefängnissen nirgends in so geballter Form, sagt Adams. Womöglich können Häftlinge auch am Bau von Elektroautos mitwirken, wie sie VW in Zwickau baut. Zudem wird es viele Therapieangebote geben: Gartenarbeit, kulturelle Aktivitäten, sogar Beschäftigung mit Tieren. Hinter der Gefängnismauer sollen zu dem Zweck sogar Alpakas gehalten werden.
Allerdings: Ob und in welchem Maße Gefängnisse diesen Anspruch auf Resozialisierung tatsächlich erfüllen, ist schwer zu sagen. Adams räumt ein, dass es in Deutschland keine Statistik zu Rückfallquoten ehemaliger Strafgefangener gebe. Sachsen unternimmt den Versuch, die Wissenslücke zu schließen: In diesem Sommer soll an der TU Chemnitz ein Kriminologisches Institut die Arbeit aufnehmen, das auch empirische Forschungen zu Rückfallzahlen anstellen soll.
Bis Ergebnisse vorliegen, stehen indes Behauptungen von Experten im Raum, wie sie etwa voriges Jahr in einer Sonderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden zum Thema Gefängnis zu lesen waren. Der Kriminologe Bernd Moelicke sagte dort über die Strafhaft, es gebe keine Art des Umgangs mit Straffälligen, die so teuer sei und eine so hohe Rückfallquote habe. Gefängnishaft ist hierzulande der gravierendste Eingriff des Staates in die Freiheitsrechte von Menschen. Strafanstalten sind geprägt von strikten Hierarchien und streng geregelten Abläufen. Die widrigen Bedingungen, teils auch der Kontakt zu oder die Konflikte mit anderen Strafgefangenen gelten als Faktoren, die spätere erneute Straftaten befördern. Der Knast, hieß es in der Ausstellung, schaffe überhaupt erst »die Bedingungen für den Rückfall«.
Neubauten von Gefängnissen, zumal von großen Anstalten wie in Zwickau, sorgen daher regelmäßig für Kontroversen. Teils verbindet sich dabei eine ablehnende Haltung gegenüber der Institution Gefängnis mit sehr grundlegender politischer Kritik. Knäste seien, heißt es in einer Erklärung der Soligruppe Berlin der »Gefangenengewerkschaft / Bundesweite Organisation« (GG/BO) zum geplanten Gefängnis in Zwickau, ein »fundamentales Element von Kapital, Staat und Herrschaft« und fügten sich ein in einen »Repressionsapparat, um die derzeitigen Verhältnisse aufrechtzuerhalten«. In einem im Juni 2019 veröffentlichten Aufruf forderte die Gruppe: »Lassen wir den Bau also nicht zu - für eine Welt ohne Knäste, Herrschaft und Unterdrückung!« Aufgerufen wurde zu Aktionen gegen »Knastprofiteur*innen«, zu denen auch zwei konkrete, an der Errichtung des, wie es heißt, »Riesen-Knastes« in Zwickau beteiligte Baufirmen gezählt wurden.
Im August 2019 kam es tatsächlich zu einem Brandanschlag auf dem Gelände der künftigen JVA, bei dem mehrere Baufahrzeuge beschädigt wurden und ein Sachschaden von 150 000 Euro entstand. Einen weiteren Brandanschlag gab es in Rodewisch, wo eine der genannten Baufirmen ihren Sitz hat. Im Sommer 2020 kam ein 22-Jähriger in Haft, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, in die Anschläge verwickelt zu sein, freilich aufgrund fragwürdiger Beweise, wie sein Anwalt kritisierte. Ein Polizeispürhund soll, nachdem er eine Geruchsprobe des Brandsatzes aufgenommen hatte, in der Wohnung des Verdächtigen angeschlagen haben - zehn Monate nach der Tat. Wer auch immer freilich die Baumaschinen in Brand gesetzt hat: Den Bau des Gefängnisses jedenfalls haben diejenigen nicht aufhalten können, wie das rege Treiben auf der Baustelle zeigt.
Jenseits fundamentaler politischer Kritik gibt es auch fachliche Zweifel an der Institution Gefängnis. Einer der prominentesten Vertreter ist ein Mann, der in Sachsen jahrelang ein Gefängnis geführt hat: Thomas Galli, zunächst seit 2001 in Bayern in der Justiz tätig und in Sachsen ab 2013 Leiter der JVA Zeithain. 2016 gab er diesen Posten auf, weil seine grundlegende Skepsis gegenüber der Institution Gefängnis zu groß geworden war. Er veröffentlichte ein Buch mit dem Titel »Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen« und vertrat die These, Gefängnis mache »die Menschen gefährlicher«. Heute gilt er als einer der prominentesten Kritiker der Institution Gefängnis, arbeitet als Anwalt und ist daneben Vorsitzender der »Deutschen Gesellschaft zur humanen Fortentwicklung des Strafrechts« (DGhFS). Um die Debatte zu beleben, teilt diese auf ihrer Homepage ein - allerdings nicht von ihr, sondern von anderen erarbeitetes - »Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen«. Diese, heißt es in dem Papier, »fördern die Illusion, dass durch die Einsperrung Einzelner Kriminalität reduziert oder gar die Lösung gesellschaftlicher Probleme befördert werden könne«.
Einer derjenigen, die einst gemeinsam mit Galli die DGhFS gründeten, trägt heute im Dresdner Justizministerium politische Verantwortung für den Bau der Haftanstalt Zwickau. Mathias Weilandt, der Galli als Leiter der JVA Zeithain nachfolgte und damals der jüngste Gefängnisdirektor Deutschlands war, wurde später zum Landesgeschäftsführer der Grünen in Sachsen - und nach der Landtagswahl 2019 und dem ersten Regierungseintritt der Partei von Ministerin Meier zum Staatssekretär berufen. Der 38-jährige Jurist kehrte damit in ein Haus zurück, in dem er ab 2010 bereits als Referent im Bereich Strafvollzug tätig war.
Auf absehbare Zeit nicht ohne Knäste
Weilandt teilt die fundamentale Skepsis Gallis gegenüber den Vollzugsanstalten ausdrücklich nicht - auch wenn er zugesteht, dass es sich bei Gefängnissen um ein »totales System« mit einem »absoluten Geltungsanspruch« handle. Die Formulierung findet sich in einer Rezension Weilandts zu einem 2018 erschienenen Buch, das Erfahrungen junger Straftäter sammelt und den bezeichnenden Untertitel »Knast oder Krieg« trägt. Der Politiker räumt ein, dass die Unterbringung von Menschen in »geschlossenen Systemen« eine »schädliche Wirkung« haben könne. Allerdings bedeute eine Aufgabe des Gefängnisses als Institution »schlicht die Aufgabe staatlicher Souveränität«, schreibt Weilandt in der Rezension - und zwar »ausgerechnet« gegenüber Menschen, die diese Souveränität durch ihre Taten »angefochten« hätten. Im Gespräch verweist Weilandt zudem auf eine breite Übereinstimmung in der bundesdeutschen Gesellschaft, die auf eine Ahndung von Regelverstößen auch durch Haftstrafen »auf absehbare Zeit nicht verzichten kann und will«.
Die grüne Ministeriumsspitze in Dresden versucht dennoch, auch alternative Formen des Umgangs mit Straffälligkeit zu stärken. Vergangene Woche übergab Ministerin Meier einen Förderbescheid für ein Modellprojekt, das den »Vollzug in freien Formen« ermöglicht. Zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Männer kommen dabei nicht hinter Gitter, sondern werden durch sozialpädagogische Angebote bei einem Dresdner Verein auf ein künftig straffreies Leben vorbereitet. Für Jugendliche gibt es das in Sachsen seit Jahren; nun werden erstmals vier Plätze für männliche Erwachsene angeboten. Das sei »ein kleiner! Anfang beim Paradigmenwechsel weg vom Wegsperren von Menschen«, schrieb die Linksabgeordnete Jule Nagel. Vier Plätze im Vergleich zu den 730 im geschlossenen Vollzug in der künftigen JVA Zwickau sind nicht viele. Weilandt sieht das Modell, das bundesweit einmalig sei, als einen Anfang. Laufe es gut und ohne »Vorkommnisse«, könne es eine öffentliche Wahrnehmung stärken, wonach »Straftäter nicht gleich Straftäter« sind und die Devise beim Umgang mit Straftaten nicht pauschal »Gefängnis« lauten muss.
Dem dienen auch andere Maßnahmen. In ihrem Regierungsvertrag hat sich die sächsische Koalition aus CDU, Grüne und SPD vorgenommen, den offenen Vollzug besser auszulasten sowie Ersatzfreiheitsstrafen zu vermeiden. Dabei landen Menschen im Gefängnis, die eigentlich zu Geldstrafen verurteilt wurden, aber diese nicht bezahlen können. Sie machten einen »nicht unerheblichen Teil der verbüßten Freiheitsstrafen aus«, heißt es aus dem Ministerium. Im kürzlich beschlossenen Landeshaushalt für 2021/22 sei auch Geld für ein Forschungsprojekt zum »Täter-Opfer-Ausgleich« eingestellt worden. Wenn Opfer und Täter gemeinsam eine Lösung fänden, um eine Tat zu sühnen, schaffe das Rechtsfrieden und helfe dabei, Gefängnisaufenthalte zu vermeiden. In Skandinavien sind derlei Formen von »Restorativer Justiz« verbreitet. Dort gebe es freilich, betont Weilandt, eine entsprechende gesellschaftliche Übereinkunft - die zu schaffen hierzulande noch einige Zeit dauern dürfte.
Deshalb werden weiter Gefängnisse gebaut, so wie die neue JVA in Zwickau. Als sie konzipiert wurde, war in Sachsen ein FDP-Mann Justizminister; später kümmerte sich ein CDU-Minister um den Bau. Sollte die JVA wie geplant im zweiten Quartal 2024 fertig werden und damit kurz vor der nächsten sächsischen Landtagswahl, könnte eine grüne Ministerin nach der Einweihung durch die »grüne Mitte« laufen und an den Bäumen sogar sehen, welche Jahreszeit jenseits der bis dahin vollständig geschlossenen Gefängnismauer herrscht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.