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Massenstürze statt Corona
Die Radsportler waren voller Vorfreude auf die Rückkehr der Fans zur Tour de France. Die verflog schnell
Simon Geschke hatte es geahnt. Der Berliner nimmt bereits an seiner neunten Tour de France teil. Nervös war er zu Beginn dennoch wie ein Jungprofi. »Die Aufregung kommt nicht mehr vor dem Unbekannten, sondern vor dem Bekannten«, sagte er dem »nd« im Startort Brest. Und jenes Bekannte umriss er dann so: »Der Stress der ersten Woche: die Stürze, auch die Unsicherheit, ob die Form stimmt. Vor allem aber die Stürze.«
Massencrashs gehören leider zum Tourauftakt. Auch bei der letzten Frankreichrundfahrt, die coronabedingt mit nur wenigen Zuschauern stattgefunden hatte, war die Auftaktetappe in Nizza wegen der vom Regen glatten Straßen von zahlreichen Stürzen geprägt gewesen. Tony Martin hatte damals als Sprecher des Pelotons das Rennen kurzzeitig neutralisiert. Er war gewissermaßen zum Sicherheitsbeauftragten geworden, und alle mussten langsam weiterfahren.
2021 ist Martin nun leider das Sturzopfer Nummer eins. Er kollidierte mit einem Pappschild, das eine Zuschauerin hochhielt, um für TV-Kameras zu posieren. Das Schild ragte in die Straße hinein, auf der von hinten das Peloton heranfuhr. »Das ist eine Rennsituation, wie sie eigentlich die ganze Zeit in der Tour stattfindet«, meinte Martin später. Er war sich auch sicher, dass die Zuschauerin wie gewohnt reagieren würde. »Im Normalfall gehen die dann zur Seite. Wir können ja nicht jedes Mal einen Bogen fahren«, sagte er.
Diese Zuschauerin zog aber nicht zurück. Im Gegenteil. Ihre Augen waren nur auf die vorbeifahrende Motorradkamera gerichtet. So wurde ihr Schild zum riesigen Hindernis des gesamten Feldes. Denn über Martin hinweg stürzte das halbe Peloton, während fast der ganze Rest dahinter anhalten musste. Auf dem Schild hatte »Allez Opi Omi« gestanden. Diese deutsch-französische Melange löste bittere Reaktionen aus. Der belgische Profi Jasper Stuyven twitterte später wütend aus dem Zielbereich: »Ich hoffe, Opi und Omi sind stolz auf dich.«
Der Tourorganisator ASO leitete rechtliche Schritte ein: »Wir haben Anzeige erstattet gegen die Verursacherin des Sturzes«, sagte Tourdirektor Christian Prudhomme. Die Staatsanwaltschaft von Brest hat bereits Ermittlungen aufgenommen. Und die Gendarmerie löste eine Fahndung aus, denn die Zuschauerin, welcher Nationalität sie auch immer ist, hatte den Unfallort verlassen, bevor die ersten Ermittler dort eintrafen.
Das Geschehen schilderte der vierfache Toursieger Chris Froome als »Blutbad«. »Überall lagen Fahrer, 60, 70 bestimmt«, sagte er. Auch er selbst lag, allerdings erst beim zweiten Massensturz, zehn Kilometer vor dem Ziel. Der war durch die von Geschke befürchtete Nervosität im Feld verursacht worden. Ein Fahrer fuhr dem anderen von der Seite ins Vorderrad, und das Unheil nahm seinen Lauf. Froome musste, wie mindestens ein Dutzend weiterer Kollegen, später zum Röntgenarzt - gab danach aber zumindest halbe Entwarnung: »Meine gesamte linke Seite ist lädiert, es ist aber nichts gebrochen.« Die linke Seite ist die gesunde. Bei seinem Horrorcrash 2019 hatte sich Froome zahlreiche Frakturen auf der rechten Seite zugezogen und die letzten beiden Rundfahrten durch Frankreich verpasst.
Viele Kollegen traf es diesmal schlimmer. Der Freiburger Jasha Sütterlin zog sich beim ersten Sturz schwere Prellungen am Handgelenk zu und musste aufgeben. Dieses Schicksal erfuhren später auch der Litauer Ignatas Konovalovas wegen eines Schädeltraumas, der Franzose Cyril Lemoine (Rippenbrüche und Kopfwunden) sowie der Spanier Marc Soler mit mehrfachen Frakturen. Die Teamärzte verbrauchten also gleich am ersten Tag Unmengen Verbandsmaterial. Zahlreiche Wunden wurden genäht, und auch der mobile Röntgenwagen der Tour war dauerhaft besetzt.
Weil der erste Sturz von einer Zuschauerin ausgelöst war, wandte sich der Zorn schnell in diese Richtung. »Die Zuschauer stehen einfach so auf der Straße, es gibt keine Zäune, nichts ist reguliert. Das ist einfach lächerlich«, sagte Merijn Zeeman, sportlicher Leiter des Teams Jumbo-Visma. Zu seinem Rennstall gehört neben Tony Martin auch Topfavorit Primoz Roglic. Der hatte ebenfalls kurz auf dem Asphalt gelegen, konnte aber weitgehend unverletzt noch auf Platz drei vorfahren. »Monatelanges Training stecken wir in diese Arbeit. Die Kosten des Sturzes belaufen sich auf mehrere Hunderttausend Euro«, rechnete Zeeman vor, und forderte die Veranstalter zu strikteren Maßnahmen auf. »Die ganze Strecke absperren kann man sicher nicht«, gab aber auch Zeeman zu.
Ungeachtet von alledem holte sich Weltmeister Julian Alaphilippe den Tagessieg. Trotz eigener Verwicklung in einen Sturz war der Franzose der explosivste Fahrer am letzten Hügel.
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