Die Maskottchentore
Zirkus Europa
Am Dienstag nimmt die Europameisterschaft Abschied von Schottland. Der Hampden Park zu Glasgow war mal das größte Fußballstadion der Welt und hat viele große Spiele mit vielen großen Mannschaften erlebt. Für das Achtelfinale hat er sich Spanien und die Niederlande gewünscht - geworden sind es Schweden und die Ukraine. Das mag für Traditionalisten ein Spiel von eher bescheidener Attraktivität sein, aber es ist allemal eines mit einer wunderschönen Vorgeschichte. Verantwortlich dafür ist Andrij Schewtschenko, Trainer der ukrainischen Nationalmannschaft und gemeinsam mit Oleg Blochin wohl der beste Fußballspieler, den diese Nation je hervorgebracht hat. Zu den Schweden hat er eine ganz besondere Beziehung.
Die Geschichte liegt neun Jahre zurück und spielt bei der Heim-EM, gemeinsam veranstaltet mit Polen: Im ersten Spiel geht es gegen Schweden, noch mit dem Stürmer Andrij Schewtschenko, der vor seinem 36. Geburtstag steht. Er hat seine Heimat in der Welt berühmt gemacht. Mit dem AC Mailand gewann er die Champions League, zweimal war er Torschützenkönig in der Serie A und zudem Europas Fußballer des Jahres. Aber vor dieser EM im Sommer 2012 hatte er bei Dynamo Kiew kaum gespielt. Der Rücken, das Knie, einmal ging er lieber auf den Golfplatz, als mit Dynamo zu einem Auswärtsspiel zu reisen. So gilt Schewtschenko vor dem Turnier nur noch als besseres Maskottchen. Doch dann kommt das Spiel gegen Schweden, und alle Kritiker werden zu Fans.
Zunächst ist davon wenig zu sehen. In der ersten Halbzeit hat Schewtschenko zweimal die Führung auf dem Fuß - und vergibt zweimal. In der Pause sagt der Co-Trainer zu ihm, es sei an der Zeit für ein bessarabisches Tor. Das ist eine Geschichte, die noch weiter zurückreicht. Weiter, als Andrij Schewtschenko sich erinnern kann. Hinter dem Tor links von der Haupttribüne des Kiewer Olympiastadions steht die Bessarabische Markthalle, die berühmteste der Stadt. Die Legende besagt, dass alle großen Spieler ihre wichtigsten Tore auf der Seite des Bessarabischen Marktes geschossen hätten.
Und Schewtschenko reiht sich nun in diese Phalanx ein, hält zweimal den Kopf genau dorthin, wo er im entscheidenden Augenblick sein muss. Die Ukraine gewinnt 2:1 und feiert ihren alten, neuen Nationalhelden. Noch tief in der Nacht wogt ein blau-gelbes Meer auf Kiews Ausgehmeile Chreschtschatyk. Schewtschenko spricht von der Nacht seines Lebens - sie erfährt auch keine Trübung durch den Geländewagen, der spät nach Mitternacht auf seinen Porsche fährt, als er gerade auf dem Weg zurück ins Mannschafshotel ist. Schewtschenko bleibt unverletzt und schreibt in der Wartezeit bis zum Eintreffen der Polizei Autogramme.
Für die Nation und ihren Helden ist es das erste und letzte Erfolgserlebnis des Turniers. Die nächsten zwei Spiele gegen Frankreich und England gehen verloren, acht Tage nach der Sternstunde vor dem Bessarabischen Markt ist die EM für Schewtschenko und die Ukraine vorbei. Danach gab es neun Jahre lang kein Duell mehr mit Schweden. Bis zu diesem Dienstag im Hamdpen Park.
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