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Jenseits von Wembley

Mit dem Achtelfinalaus gegen England endet die Ära von Joachim Löw. Mit Hansi Flick will der DFB zurück an die Weltspitze

  • Maik Rosner
  • Lesedauer: 5 Min.

Hinterher, als Joachim Löw zu seiner Zukunft und der Möglichkeit befragt wurde, sich für immer aus dem Fußball zurückzuziehen, schaute er für einen kurzen Moment beinahe so erschrocken wie bei den beiden Gegentoren. »Vom Ruhestand habe ich noch nie gesprochen«, antwortete der 61-Jährige am Ende seiner Ära als Bundestrainer. Seit 15 Jahren hatte Löw dieses Amt bekleidet - und die Vorstellung, dass dieses 0:2 (0:0) gegen England in Wembley im Achtelfinale dieser EM der Schlusspunkt seiner Karriere gewesen sein soll, widerstrebte ihm offenbar zutiefst. Natürlich werde er Zeit und Abstand brauchen, um die Enttäuschung zu verarbeiten, sagte Löw. Aber ganz aufhören? Nein. »Mit Sicherheit gibt es neue Aufgaben, die für mich interessant sind«, sagte er.

Es war einer dieser Momente nach dem EM-Aus, in denen sich die Debatten der Vergangenheit und Gegenwart mit den Fragen nach der Zukunft verbanden. Was Löw betrifft, drehten sich die Diskussionen rasch weniger um seine Verdienste, um die Entwicklung der Mannschaft seit 2006 bis zum WM-Titel 2014 und den Gewinn des Confed Cups 2017. Sondern mehr um seine Versäumnisse und Fehler in den letzten drei Dienstjahren, in die das blamable Aus nach der Gruppenphase bei der WM 2018 als Titelverteidiger ebenso fiel wie nun der große Verdruss über das frühe Ausscheiden in London.

Erschwerend kam hinzu, dass sich dieses nicht überraschend einstellte nach allem, was das Publikum von der deutschen Mannschaft in den vergangenen drei Jahren gesehen hatte, darunter die Niederlagen gegen Spanien (0:6) und Nordmazedonien (1:2). Viele jener Defizite, die zu beobachten waren, setzten sich im Turnier fort, also die fehlende Stabilität in der Verteidigung ebenso wie die mangelnde Durchschlagskraft in der Offensive. Zudem war festzustellen, dass dem Team das EM-System mit der Dreierkette eher widerstrebte. Auch wegen der ungeliebten Rollen, die einige darin übernehmen mussten, wie Joshua Kimmich auf der rechten Seite statt auf der Sechs im Zentrum des Spiels.

Solch enge Spiele »werden über individuelle Dinge entschieden«, nicht übers System, sagte Löw dazu, »man muss Chancen eiskalt nutzen, man muss kaltschnäuzig sein, man darf hinten keinen Fehler machen«. England hatte das geschafft und steht dank der Tore von Raheem Sterling (75.) und Harry Kane (86.) am Sonnabend in Rom im Viertelfinale gegen die Ukraine. Auf den Sieger wartet im Halbfinale Tschechien oder Dänemark.

Die deutsche Mannschaft hat diese große Gelegenheit verpasst, die der Turnierbaum Richtung Finale offerierte. Doch wirklich infrage kam sie für diesen Weg nicht. Nur ein Sieg steht in ihrer EM-Bilanz, dazu 6:7 Tore aus vier Spielen. Vielleicht hätte sich das frühe Aus abwenden lassen, wenn Thomas Müller seine große Chance zum 1:1 genutzt hätte, als er frei aufs Tor zulief, den Ball aber vorbeischob. Das sei ein Moment gewesen, »der dich nachts um den Schlaf bringt«, schrieb Müller am Morgen danach bei Instagram, es tue »verdammt weh«. Der Rückkehrer neben Mats Hummels wurde nicht zum Retter in der Not und wartet weiter auf sein erstes EM-Tor. Nicht völlig ausgeschlossen, dass er dazu noch einmal Gelegenheit erhalten wird.

Bei der Heim-EM 2024 wäre Müller dann zwar 34 Jahre alt, aber für ihn hat sich schon deshalb eine längere Perspektive in der Nationalmannschaft eröffnet, weil Hansi Flick diese nun übernimmt, wenn es im September mit der Qualifikation für die WM 2022 gegen Liechtenstein, Armenien und Island weitergeht. Der 56-Jährige, zuletzt mit Müller als verlängertem Arm knapp zwei Jahre lang als Cheftrainer des FC Bayern sehr erfolgreich, »wird die Mannschaft nicht neu erfinden, aber er wird vieles anders machen«, kündigte DFB-Direktor Oliver Bierhoff bereits an. »Wir sind davon überzeugt, dass wir mit ihm einen großen Schritt an die Weltspitze schaffen können.«

Jenseits von Wembley erscheint die Zukunft in der Tat vielversprechend für die deutsche Auswahl und Flick, der wie beim FC Bayern nun den Vorteil hat, nach einer Enttäuschung zu übernehmen. In München tat er das mit handwerklich schlüssigen Eingriffen. Er führte eine Achse sowie eine klare, offensive Spielidee ein, verbunden mit einem pragmatischen Coaching und einer Ansprache, die vom Team sehr geschätzt wurde.

Joachim Löw: Erlöser. Für Joachim Löw ist das Aus bei der EM und als
Bundestrainer eine Befreiung – für den Fußball auch

Flick dürfte künftig wieder mit Viererkette und Kimmich auf der Sechs spielen lassen. Er kann auf einen Stamm mit weiteren Spielern wie Leon Goretzka, Serge Gnabry und auch Leroy Sané setzen, die ihm aus München vertraut sind und sich ebenfalls noch Richtung Zenit weiterentwickeln werden. Letzteres trifft auch auf Kai Havertz und Timo Werner zu. Toni Kroos, 31, gilt dagegen als Kandidat für einen Rücktritt.

Hinzu kommen Talente wie der 18-jährige Jamal Musiala oder die U21-Europameister Florian Wirtz, Ridle Baku und Lukas Nmecha, die in die A-Auswahl befördert werden könnten. Ein Robert Lewandowski ist Nmecha zwar nicht, aber zumindest ein Mittelstürmer. Ein solcher fehlt der DFB-Elf schon seit dem Abschied von Miroslav Klose nach dem WM-Titel 2014 sehr. So auch bei dieser EM.

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