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Der lauernde Ritter
Die erste Woche der Tour de France lief perfekt für Tadej Pogačar. Und erst jetzt kommt der Slowene in sein Terrain
Im makellosen weißen Leibchen tritt Tadej Pogačar bei dieser Tour de France auf. Als Zweitplatzierter im Gesamtklassement ist er zugleich bester Jungprofi. Dafür fällt ihm dieses Wertungstrikot in der Farbe der Unschuld zu. Makellos glatt ist auch sein Gesicht, seine Haut blieb bislang von Stürzen unversehrt. Im Fahrerfeld der Lädierten ist er allein deshalb schon eine auffällige Erscheinung. Der Slowene wirkt wie Parzival, der junge Ritter, im Kreise der erprobten wie gezeichneten Haudegen um den Legendenkönig Artus.
Acht Sekunden nur fehlen Pogačar, um aus weiß gelb zu machen. Das Führungstrikot trägt (noch) ein weiteres Wunderkind des Radsports, der multitalentierte Enkel des legendären Raymond Poulidor, der Niederländer Mathieu van der Poel. Über diese acht Sekunden Puffer auf van der Poel ist Pogačar aber froh. »Es ist perfekt gelaufen. Ich liege von allen Klassementkandidaten am weitesten vorn, mein Team hat aber noch nicht die Verantwortung, mit viel Arbeit das Gelbe zu verteidigen«, frohlockte er, bevor es an diesem Samstag in die Berge geht.
Laufen die beiden Wochenendetappen wie erwartet, kann van der Poel vielleicht sogar am Samstag die Führung noch behalten. Vom Col de la Colombiere geht es eine Abfahrt herunter zum Ziel in Le Grand-Bornand. Wenn dem gelernten Cross-Fahrer die beiden vorhergehenden Berge der ersten Kategorie nicht alle Kraft aus dem Fleisch gezogen haben, könnte er bei der finalen Abwärtssause wieder zu den besten Kletterern aufschließen.
Die Etappe hoch zum Skiort Tignes am Sonntag, die über mehr als 4600 Höhenmeter und fünf Pässe führt, dürfte aber endgültig zum neuen Krönungstag des jungen Radsportdominators Pogačar werden. Zu stark präsentierte er sich in diesem Jahr schon in Bergen. Bei der Tour 2020 war er ebenfalls der stärkste Kletterer, nur mühsam im Zaum gehalten von Primož Rogličs Team. Dass Pogačar diese Fähigkeiten eingebüßt hat, ist nicht zu erwarten. Eher hat er noch zugelegt. Im flachen und hügligen Gelände ist er tatsächlich besser geworden. Das bewies sein Sieg im flachen Zeitfahren Mitte dieser Woche. Und auch sein Sieg beim anspruchsvollsten Eintagesklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich deutete an, dass der junge Slowene nicht mehr nur bergauf enorme Kräfte mobilisieren kann.
Dadurch, aber auch wegen der vielen Stürze, löste sich eine Hoffnung der Rivalen in Luft auf. »Unser Team ist sicher stärker besetzt als seines. Wir werden uns etwas ausdenken, um ihn bei den Flachetappen in Zugzwang zu bringen«, hatte Tony Martin kurz vor dem Tourstart noch zu »nd« gesagt. Der erfahrene Deutsche ist so etwas wie der Cheftaktiker unter den Fahrern von Jumbo-Visma, dem Team von Herausforderer Roglič. Das »Wespenvolk« in seiner gelb-schwarzen Teamkleidung kam aber nie zum Stich. Martin, Roglič und auch Berghelfer Steven Kruijswijk stürzten, Teamkollege Robert Gesink musste gar ganz die Segel streichen. Das Team Ineos Grenadiers wurde ebenso durch Stürze durchgeschüttelt und konnte nicht einmal auf der Rampe der Mûr-de-Bretagne für die erhoffte Selektion sorgen. Alle anderen selbst ernannten Podiumskandidaten ließen ebenfalls Federn; sei es der Spanier Enric Mas oder der Kolumbianer Miguel Ángel López, der Franzose David Gaudu oder das Duo des deutschen Bora-hansgrohe-Teams Wilco Kelderman und Emanuel Buchmann. Bis zum Zeitfahren hielten sich beide gut, dann verloren sie Minuten auf Pogačar. Die beste Lauerposition nimmt noch der Kolumbianer Rigoberto Urán ein. Wilde Attacken sind von diesem erfahrenen Kämpen aber nicht zu erwarten.
Nach einer Woche vor allem auf flachem Terrain muss man konstatieren: Selbst auf dem Teil des Parcours, auf dem Pogačar und sein Rennstall UAE noch am ehesten Schwächen aufweisen, kamen sie als die am wenigsten Geschädigten unter den Favoritenteams durch. Alles spricht also für den slowenischen Vorjahressieger. Hinzu kommt: Er selbst legt Wert auf eine gute Leistung in Tignes. Im Mai, als die Pässe noch von Schnee bedeckt waren, startete er hier einen Erkundungsritt. Eine Weile war die Straße noch zu sehen. Dann aber erstreckte sich nur noch weiße Fläche vor seinen Augen. Ein Video seiner Begleiter zeigt, wie Pogačar sich dann einfach vergnügt das Rad über die Schulter warf und durch den Schnee stapfte. »Der schönste Erkundungsritt, den ich je gemacht habe«, sagte er lachend in die Handykamera. Da war es schon wieder, das Weiß der Unbeflecktheit, das sich um den erst 22-Jährigen ausbreitete, dieses Mal als ganz weiter Mantel aus gefrorenem Wasser.
Zwei Hoffnungslichter kann sich die Konkurrenz immerhin ins Fenster stellen. Eines dafür, dass der Schnee vielleicht ein paar Geheimnisse des Anstiegs vor dem forschenden Blick des Titelverteidigers verbarg. Heimvorteil in Tignes genießt daher Roglič. Seit Jahren richtet er hier sein Trainingslager ein und hat Freunde unter den Einheimischen gefunden. Seine Streckenkenntnis könnte ihm helfen, das eine oder andere Überraschungsmoment zu kreieren - allerdings nur, wenn sein Körper dies zulässt.
Die andere Hoffnungskerze der Rivalen hält Pogačar selbst in der Hand. Für ihn ist es ungewohnt, so früh schon vor den meisten Konkurrenten zu sein. »Ich liebe es ja, anzugreifen. Das ist einfach mein Modus zu fahren. Jetzt muss ich Defensive lernen«, sagte er.
Zuzutrauen sind ihm auch hier Lernfortschritte. »Tadej ist einer, der Radsport aufsaugt, der Ratschläge annimmt. Mit ihm ist es einfach ideal zu arbeiten«, sagte Jeroen Swart, Sportmediziner und Trainer beim Rennstall UAE gegenüber »nd«. Allerdings müsste er im Verteidigungsmodus entgegen seiner Persönlichkeit, seinen Gewohnheiten und Prägungen agieren. Dieser innere Konflikt kann am ehesten zum Umschlagpunkt dieser ansonsten schon sehr früh in festen Bahnen verlaufenden Tour de France werden. Der Spannung jedenfalls wäre es zuträglich, wenn Pogačar ungeduldig wird - und sich beim Angreifen verkalkuliert. Sonderlich wahrscheinlich ist das aber nicht. So wie die Sonne den Maischnee von Tignes zum Tauen brachte, wird wohl auch das Gelbe Trikot sehr bald den Platz des weißen auf dem schmächtigen Oberkörper dieses Parzival des Radsports einnehmen.
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