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Die englische Befreiung
Mit Trainer Gareth Southgate arbeiten die Three Lions an ihrer Fußballgeschichte
Wie das früher im alten Rom gewesen ist, beim Gemetzel mit Menschen und Tieren im gewaltigen Colosseum, bekommen Abertausende Touristen täglich mehrfach erklärt. Bei den blutrünstigen Erinnerungen an Brot und Spiele wirken versöhnende Signale der Völkerverständigung wie nach dem EM-Viertelfinale zwischen England und der Ukraine (4:0) aus der italienischen Hauptstadt besonders betörend. Tausenden außerhalb des Vereinigten Königreiches lebenden Briten standen nach der magischen Nacht im Stadio Olimpico die Tränen in den Augen. Mit ihren kurzfristig erworbenen Tickets erlebten sie unter den insgesamt 11 880 Zuschauern beim einzigen Abstecher der »Three Lions« aufs europäische Festland deren bislang fußballerisch besten Auftritt. Am Ende gab sich auch die Stadionregie den Emotionen hin, und die von Englands Fußballschmerz handelnde Hymne »Football’s Coming Home« dröhnte aus den Lautsprechern. Danach gingen die Spieler auf die Ehrenrunde und empfingen die Ovationen für die nächste Mission.
Das Schaulaufen in Rom hat die Brust vor den Finalspiele in London noch breiter gemacht. »Wir wollen hier nicht aufhören. Es steht noch ein großes Spiel an und wir wollen dieses Mal das Halbfinale gewinnen«, versprach Abwehrchef Harry Maguire. Von »einem perfekten Abend«, sprach Kapitän Harry Kane. Seine Landsleute strömten in der römischen Nacht noch in die offenen Bars, hissten ihre Fahnen und rieben sich ungläubig die Augen: Wie kann es sein, dass ihre Helden plötzlich sogar »bella figura« machen? Vermutlich hätten sie den überforderten Gegner an historischer Stätte auch in Gladiatorenkostümen hergespielt.
Zum ersten Mal seit 1996 steht England wieder in einem EM-Halbfinale. Und diesmal wartet nicht das furchterregende Deutschland - diese Dämonen sind besiegt -, sondern Dänemark. Vor dem Spiel am Mittwochabend in London warnte Kane zwar davor, dass er und seine Kollegen es nicht geschafft hätten, die Dänen im vergangenen Jahr in der Nations League zu besiegen. Nicht mal ein Törchen gelang in den zwei Partien (0:0, 0:1). Ergo: »Es wird das nächste schwierige Spiel.« Doch werden 60 000 enthusiastische Unterstützer sich heiser brüllen, um die Wunden vom verlorenen Halbfinale gegen die Deutschen vor einem Vierteljahrhundert endgültig zu heilen.
Das aktuelle Team wirkt fast unverletzlich. So wie italienische Carabinieri mit Zäunen am Fontana di Trevi tagsüber verhinderten, dass sich die Menschen zu eng am Rand drängelten, um eine Münze ins Wasser des weltberühmten Brunnens zu werfen, verriegelte der englische Defensivverbund abends das eigene Tor. Jeden Block seiner Vorderleute feierte Jordan Pickford mit geballten Fäusten. Der englische Keeper ist im Turnier weiterhin ohne Gegentor.
Es stimmt gerade hinten wie vorn, auch weil Nationaltrainer Gareth Southgate nach den Taktikkniffen gegen Deutschland die engen Fesseln zerschnitt. Die Umstellung auf ein 4-2-3-1-Systen begriff seine Mannschaft als Befreiung. Mit dem überragenden Irrwisch Raheem Sterling, erstmals Jadon Sancho in der Startelf und Mason Mount kam eine offensive Dreierreihe der oft geforderten feinen Füßchen in Kanes breitem Rücken zum Zuge. Der Torjäger profitierte zweimal von Sterlings Geistesblitzen, (4. und 50.). Ansonsten riefen Southgates Musterschüler bei dieser EM erstmals ab, was bei der WM 2018 das probate Stilmittel zum Erreichen des Halbfinals bildete: Standards. Maguire nach Freistoß von Luke Shaw (46.) und Jordan Henderson nach Ecke von Mount (63.) köpften die Kugel mit Verve über die Linie.
Hendersons Treffer gehörte in einen übergeordneten Kontext. Weil der beim FC Liverpool hoch geschätzte Mittelfeldkämpe 62 Länderspiele brauchte, um erstmals im Nationaltrikot zu treffen. Und weil er sich so klaglos in die Rolle des Edelreservisten fügt. Der ehemalige Nationalspieler und jetzige BBC-Experte Rio Ferdinand übermittelte aus sicherer Entfernung das »dickste Kompliment«. Er habe noch nie ein so gut zusammengestelltes Team England gesehen, dass unter Druck so vortrefflich funktioniert.
Erneuerer Southgate hat nicht nur die Eifersüchteleien abgestellt, sondern auch einen Erfolgshunger geweckt, der viele Fans an die deutschen Turniertugenden erinnert. In der Analyse blieb der Trainer kühl: »Die Mannschaft wächst gerade an solchen Herausforderungen und reitet auf einer Welle.« Meistens dient die Rhetorik des ehrbaren Fleißarbeiters, der nun an der Trainerbank den Makel seines 1996 verschossenen Elfmeters tilgen kann, aber dem Zweck, die Euphorie nicht in sein Ensemble schwappen lassen. Auch diesbezüglich soll die Turnierblase dicht bleiben. Das Virus der Arroganz, oft genug größte Gefahr im Fußball, wird sich in seinem Team wohl nicht so rasch verbreiten. Die britische Corona-Variante ist da leider in Europa deutlich schneller auf dem Vormarsch.
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