Weltmacht EU? Nein danke!

Die jüngste Blockade des EU-Russland-Gipfels ist eine friedenspolitische Chance, meint Peter Wahl.

  • Peter Wahl
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Timing passte wie die Faust aufs Auge. Ziemlich genau zum 80. Jahrestag des Überfalls von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion beschlossen die EU-Regierungschefs eine Verschärfung der Konfrontation mit Russland. Ist die Beschwörung der »Gefahr aus dem Osten« fast schon zur traurigen Routine geworden, so kam es dieses Mal doch zu einem spektakulären Eklat: der deutsch-französische Vorschlag für einen EU-Russland-Gipfel scheiterte. Nachdem sich Joe Biden und Wladimir Putin in Genf getroffen und sogar Verhandlungen zu Rüstungskontrolle und Cybersicherheit vereinbart hatten, dachten Angela Merkel und Emmanuel Macron, dass die EU es dem großen Bruder gleichtun könne.

Aber Polen und die Balten liefen Sturm gegen die Idee. Schützenhilfe erhielten sie von Schweden und den Niederlanden, denen es allerdings weniger um Russland als vielmehr um die Demonstration prinzipieller Opposition gegen eine deutsch-französisches Vormundschadt ging. Da half auch nicht, dass Italien, Österreich und Griechenland für den Gipfel waren, denn bei der Außenpolitik gilt Einstimmigkeit.

Nun wäre es sicher schön, wenn sich das Verhältnis der EU zu Russland in Richtung guter nachbarschaftlicher Beziehungen statt Kaltem Krieg 2.0 entwickeln würde. Andererseits hat das Scheitern des Gipfelvorschlags auch seine guten Seiten. Denn im Grunde verzichtet die EU damit auf eine Möglichkeit, ihrer Sehnsucht nach Weltmachtstatus ein Stück näher zu kommen. Mehrere Kommentare beschreiben das mit dem schönen Begriff »Selbstverzwergung«. Aus linker, emanzipatorischer Sicht ist das eigentlich gar nicht so schlecht. »Small is beautiful!« - Klein ist schön!

Denn mit Weltmacht haben wir schließlich Erfahrungen gemacht und wissen, wie das enden kann. Ähnliches gilt für die anderen abgehalfterten Weltmächte in der EU. Die Mehrheit der Insassen dieser Länder haben immer einen hohen Preis für die Großmachtambitionen ihrer Oberen bezahlen müssen. Jetzt wollen diese an ihre glorreiche Vergangenheit anknüpfen, wenn auch in europäistischem Gewand. »Unsere Softpower ist die beste in der Welt«, meint ganz in der Tradition dünkelhafter Selbstüberschätzung die verflossene EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, und Heiko Maas schwärmt von einem »europäischen Patriotismus«.

Gleichzeitig werden wieder irrationale Feindbilder hoffähig und Russland zum Reich der Finsternis erklärt. Die EU hat derzeit einen besonders hohen Bedarf für so etwas. Denn angesichts der seit dem Finanzcrash 2008 nicht abreißenden Kette von Krisen - Euro- und Griechenlandkrise, Flucht und Migration, Stress mit Orbán, Kaczyński und Trump und jetzt Corona - war die Frontstellung gegen Russland bisher eines der wenigen großen Themen, bei dem man sich einig war. Es ist das uralte Wagenburgphänomen: Der äußere Feind soll die inneren Widersprüche übertünchen.

Dazu gehört auch, die innere Opposition gegen den Konfrontationskurs mundtot zu machen. Früher wurden Antimilitarismus und linke Friedenspolitik mit Etiketten wie vaterlandslose Gesellen, fünfte Kolonne Moskaus und ähnlichem aus dem zulässigen Diskurs ausgegrenzt. Heute erfüllt diese Funktion »der Putinversteher«.

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Mit dem Scheitern der Gipfelidee ergibt sich Spielraum für eine eigenständigere Russlandpolitik in Paris und Berlin. Das erhöht auch die Chance, dass innenpolitischer Druck Wirkung entfalten kann - anders als beim demokratiefernen Brüssel. Wird dagegen Einigkeit in der EU fetischisiert, macht man sich zur Geisel eines hysterischen Russenhasses in Polen und im Baltikum. Der bedarf natürlich auch der Bearbeitung. Ein guter Ansatz wäre die Beschäftigung mit der Geschichte der sogenannten deutsch-französischen Erbfeindschaft, und vor allem mit der Frage, warum die meisten Franzosen und Deutschen heute kaum mehr wissen, dass es so etwas einmal gab.

Und übrigens: Auch aus internationalistischer Sicht, also aus Sicht von 90 Prozent der 7,7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, besteht nicht das geringste Bedürfnis nach einer Großmacht EU. Mit anderen Worten: Unterm Strich überwiegen die Vorteile des nicht stattfindenden Gipfels die Nachteile.

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