Erfolgsgeheimnisse aus Genua

Trainer Mancini und Co Vialli führen Italiens Fußballer ins Endspiel der EM

  • Frank Hellmann, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Es schien ziemlich gewagt, das offizielle Fanfestival in Rom mitten zwischen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu pflanzen. An der Via dei Fori Imperiali, wo normalerweise die Touristenströme von der Piazza Venezia zum Colosseo ziehen, wirken die blauen Aufbauten und die stählernen Absperrgitter an Tagen ohne EM-Spiele immer noch ziemlich deplatziert. Aber im Nachhinein hätte es für die Übertragungen der Spiele der italienischen Nationalmannschaft bei dieser Europameisterschaft keinen besseren Ort als das antike Machtzentrum geben können. Wo es einst Goethe wegen der Paläste, Säulen und Ruinen die Sprache verschlug, schreien nun die Tifosi alle paar Tage die Freude über die Auferstehung ihrer Fußballer hinaus.

Mit dem dramatischen 4:2 (1:1, 1:1, 0:0) nach Elfmeterschießen im Halbfinale gegen Spanien vereint die Squadra Azzurra endgültig das ganze Land wieder hinter sich - und geht eingedenk von sage und schreibe 33 Länderspielen ohne Niederlage als Favorit am kommenden Sonntag ins Finale. Hätte das einer vor vier Wochen gesagt, man hätte ihm Größenwahn wie einst Caesar unterstellt. Doch die »azurblaue Märchengeschichte ohne Ende«, wie es die Tageszeitung »Gazzetta dello Sport« schrieb, steuert bei diesem paneuropäischen Turnier auf die Krönung zu.

Anders als beim letzten Titelgewinn, der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland kommt nicht die Wiederbelebung des »Catenaccio«, des bekannten Abwehrriegels italienischer Bauart, zur Aufführung. 15 Jahre danach prägen viele kreative Momente das italienische Spiel, dass sich manch einer die Augen reibt. Sind das wirklich wir? Und deshalb liegt Italien auch seinem smarten Trainer Roberto Mancini zu Füßen, der sich so herrlich elegant am Seitenrand durch den Scheitel fährt. Da hat einer nach der Apokalypse der verpassten WM 2018 ein Team erbaut, das die Fußballnation verzückt. Es ist bekannt, dass der Italiener gerne »Bella Figura« macht, aber seit wann führt das im Calcio zu Erfolg? Minimalistischer Fußball bringt maximale Erträge: So lautete die gängige Lehre, gerne von Klubs wie Juventus Turin, aber auch den Mailänder Marken, insbesondere von Inter vorgeführt. Im Halbfinale musste Mancinis Mannschaft erstmals wieder ihre defensive Hingabe über das offensive Tun stellen, denn der Gegner war schlicht so stark. »Wir wussten vorher, dass wir das Spiel nur dann gewinnen können, wenn wir auch fähig sind zu leiden. Das Ganze ist ein Projekt von drei Jahren, aber die Arbeit muss noch beendet werden«, betonte der Baumeister danach.

Sein Konstrukt besteht nicht aus großen Blocks aus Mailand, Turin oder Rom. Von den 26 Spielern aus seiner Squadra wuchs keiner in einer der großen Metropolen auf. Prägend ist Genua, die sechstgrößte Stadt Italiens, einst von weltweiter Bedeutung für den Seehandel, im Fußball aber abgehängt. Sampdoria war zuletzt Neunter der Serie A, zwei Plätze vor dem Lokalrivalen Genua CFC, immerhin. Mancini hat hier seine beste Zeit als Spieler verbracht, gemeinsam mit seinem Co-Trainer Gianluca Vialli, den er einen Freund fürs Leben nennt. Und davon hat »Mancio«, wie sie ihn nennen, wahrlich nicht viele.

Mancini und Vialli sind heute beide 56 Jahre als, in den 80er und 90er Jahren waren sie die Torzwillinge (»Gemelli del Gol«) bei Sampdoria. Der steinreiche Klubbesitzer Paolo Mantovani taufte seine Hunde sogar in »Roby« und »Luca« um. Der Verein gewann 1991 die Meisterschaft und ein Jahr darauf fast den Europapokal der Landesmeister. Erst in der Verlängerung setzte sich der FC Barcelona durch, übrigens im Wembley-Stadion, aber das muss ja jetzt nichts heißen. Als Vialli vor drei Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte, war Mancini tief berührt und holte ihn bald zum Nationalteam. Vialli sollte allen vermitteln, dass es sich zu kämpfen lohnt. Bald hörten ihm auch die jungen Spieler zu, die glaubten, der Fußball haben nur schöne Seiten. Heute sagt jeder: Erst dieses Duo, mit der Kenntnis auch für die versteckten Gemeinheiten des Lebens, hat diese betörende Gemeinschaft erschaffen.

Und dann gelingen besondere Dinge. Als Jorginho, der eingebürgerte Brasilianer, beim letzten Elfmeter mit einem leichten Hüpfer den spanischen Keeper Unai Simon lässig in die falsche Ecke schickte, entlud sich ein unbeschreiblicher Jubel - auf den Rängen im Londoner Wembley-Stadion, wo die im Vereinigten Königreich lebenden Landsleute herumsprangen, auf dem Rasen und in ganz Italien. »Ich kann meine Emotionen nicht in Worte fassen. Aber jetzt sind wir im Finale und kommen hierher zurück«, stammelte Torschütze Federico Chiesa. Dessen Geniestreich nach einer Stunde glich zwar der eingewechselte Alvaro Morata zehn Minuten vor Schluss aus, aber Spaniens Joker sollte beim Elfmeterschießen versagen.

Mancinis Gegenüber Luis Enrique gab sich als fairer Verlierer. »Im Sport müssen wir lernen, wie man gewinnt, und lernen, wie man eine Niederlage hinnimmt«, sagte Enrique. »Deshalb möchte ich Italien gratulieren. Wir reisen nach Hause nach Spanien in dem Wissen, dass wir eindeutig zu den besten Teams des Kontinents gehören.« Doch den besseren Fußball zeigten über das gesamte Turnier eindeutig die Italiener. Und nun reicht nicht einmal die schönste Fanzone. Die römische Bürgermeisterin Virginia Raggi teilte mit, dass für den Sonntag das Stadio Olimpico für 16 000 Zuschauer geöffnet werde.

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