Terroropfer am Mount Ventoux
Tom auf Tour
Der Mont Ventoux warf seinen Riesenschatten auf die Tour de France. Nicht alle waren davon beeindruckt. »Es ist ein Berg, wie es viele andere gibt, und vom Profil her ganz gut zu fahren«, sagte Simon Geschke zu »nd« vor dem Start am Mittwoch. Der Berliner hatte sich vorgenommen, in die Fluchtgruppe des Tages zu kommen. Seine Versuche blieben aber fruchtlos. Er verpasste sowohl die kleine Spitzengruppe, die sich um Weltmeister Julian Alaphilippe gebildet hatte, als auch die zeitweilige Verfolgergruppe, in die es immerhin der Kölner Nils Politt schaffte.
Einen Tag bevor die Profis sich an den Anstieg machten, hatte der Berg ganz anderen Besuch. Elf Personen, einige auf Rennrädern, andere auf E-Bikes und zwei in Rollstühlen, erklommen den »Riesen der Provence«. Es handelte es sich um Opfer von Terroranschlägen, die den Tag vor der Tour nutzen wollten, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. »Wir wollen zeigen, dass Terroropfer, um wieder in der Gesellschaft anzukommen, ihren ganz persönlichen Mont Ventoux bezwingen müssen. Man muss viel Kraft aufbringen, um dort anzugelangen, und dafür, dass man akzeptiert, was man erlebt hat, und dem Leben wieder positive Seiten abzugewinnen«, sagt Guillaume Denoix de Saint Marc, einer der elf, zu »nd«. Er verlor seinen Vater bei einem Bombenattentat auf ein Flugzeug im September 1989. Später gründete er die Association francaise des Victimes du Terrorisme (AfVT).
Er erzählt, dass er diesen Kraftakt selbst schon viermal hinter sich hat: »Mein erster Mont Ventoux war es, mich selbst wieder aufzurichten. Der zweite war, Verhandlungen mit dem Sohn des Attentäters aufzunehmen, damit Libyen die Verantwortung übernimmt. Es war der Sohn von Gaddafi. Der dritte war es, ein Denkmal in der Wüste von Teneré zu errichten. Und der vierte Aufstieg zum Mont Ventoux ist es, die französische Organisation zur Unterstützung von Terroropfern gegründet zu haben, um zu helfen, dass andere Opfer wieder die Kontrolle über ihr Leben bekommen.«
Anaele Abescat half sie zurück ins Leben. Die 26-Jährige verlor 2007 ihren Vater bei einem Anschlag von Al-Qaida in Saudi-Arabien. Sie und ihr Bruder waren Zeugen. »Vier Menschen starben. Plötzlich kam ein Pick-up mit Al-Qaida-Leuten. Sie hatten Kalaschnikows dabei und eröffneten das Feuer«, berichtet sie. »Weil die AfVT für den Neuaufbau meines Lebens so wichtig war, bin ich auch bei dieser Aktion am Ventoux dabei«, sagt sie. Ihren persönlichen Mont Ventoux hat sie schon bezwungen. Sie beendete in diesem Sommer ihr Pädagogikstudium und wird ab Herbst in einer Pariser Schule in den Klassenstufen eins bis vier arbeiten. »Ich freue mich schon darauf, die Kinder zu unterrichten«, sagt sie.
Die Idee für den Ritt auf den Mount Ventoux hatte Aristide Melissas. Er ist ambitionierter Radsportler - und wurde mit seiner Familie auf einem Radweg Opfer eines IS-Sympathisanten. »Wir wollten Geburtstag feiern in New York, meine Frau, unser Sohn und unser Neffe. Wir fuhren auf einem Radweg. Das hier ist mein Sohn, dort mein Neffe. Da vorn sind zehn Argentinier, die sich zum Feiern des 30. Jahrestags ihres Schulabschlusses getroffen haben«, zeigt er die Situation kurz vor dem Anschlag auf einem Foto, das er damals mit seinem Handy gemacht hat. »Sekunden später, als alle zusammen waren, raste ein Pick-up in uns hinein. Acht Menschen starben, mir spaltete es den Schädel. Meine Frau sehen Sie dort im Rollstuhl«, erzählt er weiter.
Irgendwann nahm Melissas Kontakt zu Eddy Merckx auf. Der fand die Idee großartig und stellte Kontakt zum Rennveranstalter her: Auf der 11. Etappe waren die Terroropfer dann auch Ehrengäste der Tour de France.
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