- Politik
- Russland
Zwischen Liberalen und Spoilerparteien
Die russische Opposition will von der sinkenden Attraktivität der Regierungspartei Einiges Russland profitieren
Russlands politisches System ist geprägt vom Ideal der Stabilität. Doch die Zeit, als nach den chaotischen Jelzin-Jahren das ausschließliche Streben nach Beständigkeit begrüßt wurde, ist vorbei. Aus der Stabilität ist vielerorts Stagnation geworden. Dies betrifft auch die Dominanz der Regierungspartei Einiges Russland.
Umfragen sehen diese im Abwind. Bei der Dumawahl im September droht laut staatlichem Meinungsforschungsinstitut WZIOM weniger als 30 Prozent Zustimmung. 13 Prozent der befragten Wahlberechtigten wollen für außerparlamentarische Parteien stimmen. 12 Prozent der Umfrageteilnehmer sind noch unschlüssig, 11 Prozent wahlmüde. Mit Blick auf die 5-Prozent-Hürde gäbe es also genug Potenzial für eine neue Oppositionskraft im Parlament.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Nach aktuellem Stand bewerben sich zehn Parteien um den Einzug in die Duma. Dort sitzen seit 2007 fast ausschließlich Vertreter von Einiges Russland und den drei handzahmen Parteien der sogenannten Systemopposition. Diese besteht aus der kommunistischen KPRF, der nominell liberaldemokratischen LDPR und der patriotischen Partei Gerechtes Russland, welche Anfang des Jahres zum Parteienbündnis Gerechtes Russland - Patrioten - Für die Wahrheit umfirmierte. Die Erhaltung dieses Systems sei im Interesse des Staatsapparats, glaubt die Politologin Tatjana Stanowaja: Der Status quo erschwere neuen Parteien den Zugang: Diese müssten nicht nur für die Steigerung ihres Bekanntheitsgrades, sondern auch gegen den Apparat kämpfen.
Der direkte Draht zu Putin - Zwischen Corona und Geopolitik: Der russische Präsident stellt sich den Fragen der Bürger
Einige der angetretenen Parteien haben dennoch eine Chance auf den Einzug ins Parlament. Zum Beispiel die linksliberale Jabloko, welche bis 2003 in der Duma saß und aktuell in Umfragen punktet. Ihr Problem ist, dass sie von oppositionsnahen Wählern nicht unbedingt als frische, unverbrauchte Kraft empfunden wird. Fast schon symbolisch steht für Jabloko ihr langjähriger, bald 70-jähriger Vorsitzender Grigori Jawlinski. Kürzlich polarisierte er mit einem politischen Manifest, in welchem er sowohl die Regierung als auch Russlands bekanntesten Oppositionellen Alexej Nawalny angriff. Allgemein ist die Partei bemüht, sich von beiden Seiten abzugrenzen. Jawlinski will mit jungen Kandidaten einen Imagewechsel herbeiführen und verzichtete Ende vergangener Woche zumindest auf die Duma-Kandidatur.
Es gibt aber auch noch andere Kleinparteien, die man als Russe oder Russin im September wählen kann. So existiert eine Grüne Alternative, die bisher in zwei Regionalparlamenten gegen Umweltprobleme kämpft und nun den Sprung auf die föderale Ebene schaffen will. Oder die Partei Parnass, welche sich wie Jabloko liberal, aber etwas oppositioneller gibt.
Geht es nach Russlands Mächtigen, kann es gar nicht genug Kleinparteien geben, die sich gegenseitig die Wählerstimmen unzufriedener Wähler abjagen und so letztlich unter der 5-Prozent-Hürde bleiben. Es gibt sogar den begründeten Verdacht, dass einige Neugründungen der letzten Jahre von oben nur initiiert wurden, um die Opposition zu zersplittern und abzulenken. Russen sprechen diesbezüglich von Spoilerparteien.
Unter diesem Verdacht steht beispielsweise die Bewegung Nowyje Ljudi (Neue Leute), deren Parteiprogramm auf eine Din-A4-Seite passt. Gründer Alexej Netschajew ist Vorstandsmitglied der Allrussischen Volksfront (ONF) - einem von Putin geleiteten Zusammenschluss kremlnaher Organisationen und Parteien. Oder die Kommunisten Russlands, denen von linken Oppositionellen vorgeworfen wird, ein Kremlprojekt zu sein. Auch die Rentnerpartei, welche offen ihre Putin-Unterstützung erklärt, gilt als Spoiler.
Leugnen und verharmlosen - In Moskau sterben so viele Menschen wie noch nie an Corona. Doch die Skepsis gegenüber Impfungen bleibt groß
Diese Kräfte fallen im Wahlkampf kaum auf. Oft haben sie Namen, die anderen Parteien frappierend ähneln. Dies ist kein Zufall: Durch Verwechslungen sollen sie die Wähler verwirren und so Stimmen von den Originalparteien abziehen, analysiert die Zeitung »Wedomosti«. Ihr Einzug in die Duma sei kein Ziel. Demselben Zweck dienen Bots und täuschend echte Fake-Seiten im Internet, die den offiziellen Auftritten oppositioneller Parteien nachempfunden sind, schreibt das kremlkritische Portal Meduza mit Sitz in Lettland. Die Opposition würde darüber hinaus durch die restriktive Auslegung von Pandemievorschriften bei der Wahlwerbung behindert.
Ob das Reservoir oppositioneller Wähler wirklich ausreicht, um eine neue Partei in die Duma zu bringen, muss sich nun zeigen.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!