»Ich will, dass wir gemeinsam stark sind«

Profi-Turnerin Elisabeth Seitz trägt einen langbeinigen Turnanzug, damit sich die Zuschauer auf das Wesentliche konzentrieren können: die Turnübung

  • Interview: Brigitte Wenger
  • Lesedauer: 8 Min.

Zwischen Olympia-Qualifikation und Olympia sitzt uns Elisabeth Seitz zwischen zwei Trainings per Videocall gegenüber. Die 27-Jährige ist mit 23 Meistertiteln die erfolgreichste deutsche Turnerin; Olympia 2021 in Tokio werden ihre dritten Spiele sein - und voraussichtlich ihre letzten. Doch am meisten Aufsehen haben Elisabeth Seitz und zwei Kolleginnen bei der Kunstturn-Europameisterschaft in diesem Frühling in Basel (Schweiz) erregt, als sie mit langbeinigen Turnanzügen antraten.

Welche Turnanzüge packen Sie in Ihre Olympiatasche?

Interview

Die Kunstturnerin Elisabeth Seitz hat fast so viele Meistertitel geholt (23) wie sie alt ist (27). In diesem Jahr hat sie nicht wegen ihrer Goldmedaillen Bekanntheit erlangt, sondern weil sie sich für lange Turnanzüge einsetzte. In Tokio wird sie zum dritten Mal an den Olympischen Spielen teilnehmen. 

Frauenkunstturnen bei den Olympischen Spielen 2021: 25. Juli Gerätequalifikation, 27. Juli Teammehrkampf, 29. Juli Einzelmehrkampf, 1. bis 3. August Einzelgerätefinals.

Ganz viele verschiedene. Zum einen die gewöhnlichen beinfreien, zum anderen aber auch unsere neu kreierten sogenannten Unitards - bunte, glitzernde, enge, aber langbeinige Anzüge. Damit wollen wir ein Zeichen setzen, wollen zeigen, dass jede Athletin selbst entscheiden darf, was sie wann tragen möchte.

Fühlen Sie sich wohler, wenn Sie in langbeinigen Unitards turnen statt in knappen Anzügen, bei denen man Ihnen bei jedem Spagatsprung in den Schritt sieht?

Ich fühle mich sehr wohl in den langen Anzügen, aber es ist tagesabhängig. Manchmal mag ich mehr Stoff, manchmal hab ich Lust auf weniger. Viele Frauen tragen lieber mehr, wenn sie zum Beispiel ihre Periode haben. Damit der knappe Anzug nicht verrutscht, kleben wir ihn uns auf die Haut. Manchmal müssen wir den Anzug nach jedem Gerät nachkleben, das ist ein großer Aufwand.

Bilder der langbeinigen Anzüge bei der Europameisterschaft haben es in Großbritannien, in den USA und in Neuseeland in die Medien geschafft und wurden sogar als »revolutionärer Anblick« betitelt. Lob überall. Haben Sie auch negative Reaktionen erhalten?

Sehr wenige. Einige haben gesagt, dass es ihnen nicht gefällt. Das ist eine Kritik, die völlig in Ordnung ist. Kunstturnen soll schön sein - wenn es einem nicht gefällt, dann passt diese Kritik schon. Aber natürlich gab es auch Kommentare vor allem von Männern, die nicht so toll waren - und gerade diese haben uns gezeigt, dass wir genau das Richtige getan haben.

Zum Beispiel?

»Wollt ihr euch jetzt ganz verschleiern?« Oder: »Dann schau ich mir lieber wieder die knappen Höschen im Beachvolleyball an.« Wir wollen zeigen, dass der Turnsport wunderschön ist und dass es dabei nicht darum geht, was man trägt. Das wichtigste ist, dass sich die Turnerin wohlfühlt.

Langbeinige Turnanzüge sind vom Internationalen Turnverband schon lange erlaubt, vor allem aus religiösen Gründen. Warum sind gerade Sie mit Team Deutschland nun die Vorreiterinnen dieser Bekleidungsrevolution?

Diese knapp geschnittenen Anzüge sind Turntradition, man kennt sie kaum anders. Deshalb hat man sie auch nicht hinterfragt. Als erfahrenes Team mit einigen älteren Turnerinnen haben wir begonnen, über verrutschte Anzüge und über die knappen Schnitte zu diskutieren - so ist die Idee entstanden. Als wir jünger waren, haben wir uns auch keine Gedanken darüber gemacht.

Also Sie sprechen in der Halle mit Ihren Kolleginnen über verrutschte Anzüge?

Wir trainieren meistens im knappen Dress mit einer Sporthose darüber. Für das Training am Balken heißt es dann: »Zieht eure Sporthose aus!« Und so überlege ich mir, während ich am Balken turne, ob mein Dress verrutscht, statt mich auf meine schwierige Übung zu konzentrieren. Und das geht auch den anderen so - so haben wir begonnen, im Team über langbeinige Anzüge zu diskutieren.

Eine Umfrage des SWR bei über 700 deutschen Athletinnen hat ergeben, dass jede dritte Sportlerin schon Erfahrungen mit Sexismus im Sport gemacht hat. Sie auch?

Nein, ich persönlich zum Glück nie in echt. Höchstens virtuell. Kunstturnen der Frauen ist ein ästhetischer Sport, der wegen der knappen Anzüge in die falsche Richtung interpretiert werden kann. Es gibt Männer, die online Bilder von uns kommentieren und für sexistische Zwecke benutzen. Es ist so schade, dass nicht unsere schöne Sportart mit den tollen Leistungen gewürdigt wird. »Entsportlichung der Sportlerin« nennt man das. Sexismus hat nirgends etwas zu suchen. Also schützen wir uns mit diesen langen Unitards selbst.

Das Frauenkunstturnen ist in den letzten Jahren auch durch negative Berichterstattung aufgefallen: Der US-Teamarzt Larry Nassar, der jahrelang Turnerinnen sexuell missbraucht hat, der US-Verband, der weggeschaut hat …

Wir alle waren geschockt, als wir gehört haben, was in den USA passiert ist. Nach den ersten Vorwürfen haben sich so viele aktive und ehemalige Turnerinnen gemeldet und über sexuelle Übergriffe und verbale Erniedrigungen ausgesagt. Auch aus anderen Ländern.

Bekommt man da gar nichts mit bei internationalen Wettkämpfen?

Nein, wenig. Man sieht sich kurz im Training und dann beim Wettkampf. Aber da sind alle zu 100 Prozent auf die Übung und die Präzision fokussiert. Danach fahren die Teams einzeln zurück ins Hotel zur Erholung. Von den anderen Ländern kriegt man kaum etwas mit.

Also ist das Kunstturnen prädestiniert für Übergriffe und verbale Erniedrigungen: Die jungen Frauen sind isoliert und abhängig vom Trainerstab.

Ja, gerade auch weil man im Turnen sehr früh beginnt, Höchstleistungen zu erbringen. Im Alter von 16 Jahren turnt ein Mädchen bei den Seniorinnen mit. Da ist man noch nicht erwachsen, ist noch kindlich, glaubt viel oder alles - da entsteht schnell eine Abhängigkeit. Es ist die Aufgabe des Verbandes, des ganzen Konstrukts, passende Regeln zu finden, dass diese Abhängigkeit nicht zu groß wird und es keine Chance zum Beispiel für sexuelle Übergriffe gibt. Da passiert auch international gerade sehr viel.

Was zum Beispiel?

Das ist alles noch in Arbeit. Ich weiß aber aus vielen Quellen, dass in Deutschland auch von externen Stellen Leute hinzugenommen werden. Es wird auf vielen möglichen Wegen versucht, die Jüngsten von uns zu schützen.

Ist Ihr Projekt »It’s my choice« - eine neue Website, die Sie mit einem Onlinepartner nach den Olympischen Spielen veröffentlichen wollen - auch Teil davon?

Die langbeinigen Turnanzüge, die Unitards, sind die erste Aktion dieses Projektes. Also: »It’s my choice« - es ist meine Entscheidung, ob ich den Unitard oder den traditionellen Turnanzug anziehe. Aber dabei soll es nicht bleiben: »It’s my choice« soll auch außerhalb des Turnsports und außerhalb des Sports allgemein stattfinden. Ich will mich für »Female Empowerment« einsetzen, will Frauen stärken, für Frauen und mit Frauen sprechen. Will, dass wir gemeinsam stark sind. Nach den Olympischen Spielen will ich aus dem Turnanzug-Ding ausbrechen und schauen, was ich noch erreichen kann.

Das Kunstturnen hat sich in den letzten Jahrzehnten extrem gewandelt: Von Turnerinnen wie der Rumänin Nadia Comăneci, die 1976 dünn und mädchenhaft die Olympia-Mehrkampf-Goldmedaille gewonnen hat, zur US-Amerikanerin Simone Biles, die sehr muskulös und athletisch ist, sehr weiblich, und so bei den Olympischen Spielen 2016 Mehrkampf-Gold gewann. Sicher fühlen Sie sich auch im heutigen Bild wohler.

Auch ich bin da Teil des Wandels. Die Turnerinnen früher waren 15- bis 17-jährige Mädchen, die danach wie von Erdboden verschluckt waren. In den letzten Jahren haben sich die Turnerinnen in Richtung mündige Athletinnen entwickelt, die im Training mitreden, die längere Karrieren haben, älter werden im Sport und körperlich keine zierlichen Figürchen mehr haben. Es ist so vielfältig geworden. Heute gibt es die schmale, elegante Turnerin mit auffallender Gymnastik. Und dann haben wir Sportlerinnen wie mich, die muskulös wirken, Akrobatik am Boden zeigen, kraftvolle Sprünge. Es freut mich besonders, dass wir da ausgebrochen sind und es von allem etwas gibt: junge Turnerinnen, die noch eine lange Karriere vor sich haben, und erfahrene Athletinnen - jede ist individuell. Ich hoffe, dass wir Turnen bald mit erwachsenen Frauen verbinden und mit Vielfältigkeit.

Sie haben am Anfang des Gesprächs von sich aus das Thema Periode angesprochen. Ist es Ihre Art, in den Medien offen über den weiblichen Zyklus und Menstruation zu sprechen? Gewöhnlich ist das ja nicht.

Na ja, die Periode ist halt menschlich. Jede Frau hat damit zu kämpfen - manche mehr, manche weniger. Das ist der Körper der Frau, darüber sollte man schon sprechen können. Klar, vor einigen Jahren war das für mich auch nicht einfach, aber wenn man älter wird, wird man offener.

Sprechen Sie im Team, mit Ihrer Trainerin offen über den Zyklus?

Eher nicht so. Es ist kein Tabuthema, aber es ist auch nicht so, dass wir viel darüber sprechen. Aber tatsächlich haben wir schon darüber diskutiert, ob es möglich wäre, den Zyklus in den Trainingsplan zu integrieren. Damit der Trainer Bescheid weiß, sich nicht wundert, wenn sich eine Turnerin nicht so gut fühlt. Die Diskussion darüber kam erst jetzt auf, weil früher einfach niemand auf den Gedanken kam.

Sie gelten als Turnerin, die Kraft aus Emotionen zieht und am erfolgreichsten vor Publikum turnt. Eine selbst ernannte Rampensau. Nach dem langen Corona-Entzug müssen Sie in Tokio ja explodieren.

Bestimmt. Ich freu mich extrem, dass ich es wieder in die Olympischen Spiele geschafft habe, dass ich während Corona nicht aufgegeben habe zu kämpfen. Das möchte ich zeigen - und vor allem will ich es genießen.

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