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»Wir können nur Trostpflaster anbieten«
Hilfsorganisation fordert legale Einreisewege für Menschen auf der Flucht in die Europäische Union
Menschen auf der Flucht dürfen nicht über die Grenze zurückgeschoben werden. Trotzdem passieren an den EU-Außengrenzen ständig solche völkerrechtswidrigen Zurückweisungen, die sogenannten Pushbacks. Bis März 2021 hat die Organisation Border Violence Monitoring Network, deren Netzwerkpartner Ihre NGO ist, für einen Zeitraum von vier Jahren mehr als 1000 Pushbacks dokumentiert. Von diesen waren mehr als 15 000 Flüchtende betroffen. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Was beobachten Sie selber vor Ort - beispielsweise an der kroatischen Grenze zu Bosnien?
Täglich sehen wir Menschen, die manchmal barfuß und nur noch in T-Shirts und Unterhosen von der kroatischen Grenze zurücklaufen. Sie werden verprügelt, ihre Habseligkeiten wie Handys und Kleidung werden ihnen weggenommen.
Lisa Koerber engagiert sich seit 2020 bei der Hilfsorganisation No Name Kitchen in Velika Kladusa an der bosnisch-kroatischen Grenze. No Name Kirchen wurde 2017 in Belgrad gegründet. Die Freiwilligen aus unterschiedlichen Ländern unterstützen auf der Balkanroute und in Ceuta Menschen auf der Flucht mit Essen, Kleidung, Decken, Zelten usw. Sie dokumentieren außerdem die Berichte der Flüchtenden über illegale Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen. Mit Lisa Koerber sprach für »nd« Hülya Gürler.
Können Sie Beispiele nennen?
Ende Mai ist eine Gruppe von 18 pakistanischen Männern über die kroatische Grenze drei Tage landeinwärts gelaufen. Unter ihnen waren auch zwei Minderjährige. Beim Ausruhen hat sie eine Patrouille aufgegriffen. Die Gruppe musste sich ausziehen, die Polizei schlug sie. Im Entenlauf musste sie über die Grenze laufen. Nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch Demütigungen sind üblich.
Beobachten Sie eine Zunahme der Gewalt?
Im letzten Oktober war die Gewalt besonders schlimm. Ich habe herausgeschlagene Zähne, offene Kopfwunden, blaue Augen, blaue Stellen am Körper sowie einen gebrochenen Arm gesehen. Wir überqueren zwar nicht die Grenzen, sind aber mit den Menschen in Kontakt. Sie berichten uns von den Vorfällen.
Sind auch Frauen und Kinder von Pushbacks betroffen? Davon haben zuletzt beispielsweise die Tagesschau oder das Schweizer Fernsehen und Radio (SRF) berichtet.
Seit vergangenem Winter haben wir besonders viele Familien gesehen. Viele kommen aus dem abgebrannten ehemaligen Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Oder sie wählen eine andere Route, weil ihre Asylanträge in Griechenland abgelehnt worden sind. Der Anteil an körperlicher Gewalt ist zwar gegenüber Familien geringer - meistens werden nur Männer ohne Familie geschlagen. Nichtsdestotrotz erleiden auch Familien Schikanen. Polizisten durchsuchen zum Beispiel die Windeln der Kinder. Diese werden herumgeschubst oder sehen manchmal zu, wie ihre Väter geschlagen werden.
Beobachten Sie zeitweise Veränderungen der Situation vor Ort?
Im Winter halten sich die Menschen in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo auf, um dort in offiziellen Camps zu überwintern; nur wenige sind dann direkt an der Grenze. Jetzt im Sommer sind es wieder mehr Menschen.
Wo setzt Ihre NGO an mit Hilfe und kommt die bei den Menschen an?
Wir dokumentieren die Berichte über Gewalt und Pushbacks und verteilen Essen, Zelte, Kleidung oder Decken. Es ist eine endlose Arbeit. An einem Tag verteilen wir Schuhe an eine Gruppe; am nächsten Tag werden einer anderen an der Grenze Schuhe und andere Kleidung abgenommen. Es ist ein Verschleiß an Material bei diesen Pushbacks.
Das hört sich nach Resignation an.
Ja, wir können nicht viel bewegen, es ändert sich ja nichts, die Situation dort wird immer schlimmer. Wir können nur Trostpflaster anbieten.
In welcher Verfassung befinden sich die Flüchtenden heute?
Die Menschen haben häufig resigniert und verlieren jegliche Hoffnung. Wir sehen Kinder, die nicht mehr reden, und Erwachsene, die anfangen zu trinken oder von Beruhigungstabletten abhängig werden. Es ist sehr schwer bis fast unmöglich, es über die Grenze zu schaffen. Manche verletzen sich selber, weil sie hoffen, deshalb in Krankenhäusern in Kroatien versorgt zu werden. Je schwieriger es ist, es auf eigene Faust über die Grenze zu schaffen, desto mehr treibt es die Menschen in die Hände von Schmugglern. Das macht sie abhängig von diesen.
Welche Polizisten sind beteiligt an den Pushbacks?
Die Gewalt an der Grenze geht in den meisten Fällen von einer Spezialeinheit - der Intervention Police - aus, die dem kroatischen Innenministerium unterstellt ist. Vor dem Grenzübertritt nach Bosnien treffen die Menschen auf mehrere andere Polizeieinheiten. Es sind aber auch lokale Polizisten beteiligt, die die Flüchtenden im Land selbst aufgreifen.
Konnten Sie auch Beamte der europäischen Grenzschutzagentur Frontex beobachten? Davon, dass Frontex-Beamte an illegalen Pushbacks beteiligt sind, hört man viel.
Anders als in Griechenland, Albanien und Mazedonien sind Frontex-Beamte an der kroatischen Grenze weniger präsent. Es sind vielleicht nur ein Dutzend. Wir wissen aber, dass Frontex die kroatischen Behörden mit Aufklärungsflügen an der Grenze zu Bosnien unterstützt.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie das alles mitkriegen?
Ich habe längst den Glauben an europäische Werte verloren. Deutschland und der Rest der EU nehmen die gewalttätigen Pushbacks billigend in Kauf. Ihnen geht es nur um den Schutz der EU-Außengrenzen. Das deutsche Innenministerium unterstützt die kroatische Regierung sogar mit der Ausbildung der Grenzpolizei, Fahrzeugen und Geräten, die für die Überwachung der Grenze eingesetzt werden.
Was wäre eine echte Hilfe für die flüchtenden Menschen vor Ort?
Wir können noch so viele Sachspenden verteilen, das ändert nichts an der hoffnungslosen Situation. Jeder Einzelne kann etwas unternehmen, politischen Druck aufbauen zum Beispiel. Denn die Pushbacks und die Gewalt müssen sofort beendet werden. Es müssen legale Einreisewege geschaffen werden. Das gesamte europäische Asylsystem funktioniert nicht mehr. Hier muss es endlich eine politische Lösung geben. Häufig kommt bei der Grenzgewalt das Argument: Die Flüchtenden können ja die üblichen Grenzübergänge benutzen statt unregulierte Wege. Doch auch dort werden sie abgewiesen.
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