Wie Kermit, der Frosch

Mark Cavendishs Karriere schien schon zu Ende. Jetzt erlebt er ein Comeback und könnte einen Rekord holen

  • Tom Mustroph, Andorra la Vella
  • Lesedauer: 4 Min.

Auch Rekordmänner müssen leiden. Am Freitag gewann Mark Cavendish noch den Sprint von Carcassonne. Am Wochenende indes nahm er Platz im Gruppetto, kämpfte gegen das Zeitlimit auf den ersten beiden Pyrenäenetappen dieser Tour. Cavendish hält durch, denn er hat zwei große Ziele: Er will endlich wieder das Grüne Trikot bis nach Paris bringen. »Ich fühle mich ein wenig wie Kermit, der Frosch«, scherzte er, so grün gewandet, wie er ist. Aber er würde damit einen Kreis schließen. 2011 gewann er zum ersten und bisher einzigen Mal Grün. Danach setzte die Serie des großen Peter Sagan ein.

Das zweite große Ziel ist der 35. Etappensieg bei einer Tour. Sieg Nummer 34 holte er in Carcassonne. Gnädig nahm dabei sein Anfahrer Michael Mørkøv kurz vor der Ziellinie noch Fahrt raus. Nichts sollte schließlich schiefgehen bei der historischen Mission. Auf dieser 13. Etappe der 108. Tour de France geschah etwas, was in der langen Geschichte der Tour zuvor nur einmal geschah. Und man muss dafür auch zurückblättern bis zum 5. Juli 1975. Damals gewann Eddy Merckx ein Einzelzeitfahren. Es war sein 34. Sieg. Das schien damals, und auch die Jahrzehnte danach, ein Monument, eine uneinholbare Marke. Sie schien erst recht uneinholbar, nachdem Mark Cavendish im Jahr 2017 aufgehört hatte, der alte Mark Cavendish zu sein. 30 Siege hatte er bis 2016 bei der Tour errungen. 2017 aber war Schluss. Der Brite hatte sich das Epstein-Barr-Virus eingefangen. Das schwächt des Immunsystem und kann zahlreiche weitere Erkrankungen auslösen. »Epstein-Barr ist ein Feigling. Er schlägt zu, wenn du schwach bist. Und die schlimme Sache daran ist: Wenn du trainierst und dich belastest, wird die Krankheit immer schwerer«, sagte er damals.

Cavendish aber machte genau das. Er trainierte, er quälte sich, er wollte wieder auf sein altes Niveau. Und er verschlimmerte es damit. Zwischenzeitlich glaubte er die Krankheit zwar besiegt. 2018 aber brach sie erneut aus. Damals schien sein Karriereende besiegelt - auf einer Hinterbühne der Tour de France in jenem Jahr: Auf einer Alpenetappe war Cavendish lange allein dem Feld hinterher gefahren. Teamkollegen wurden ihm nicht mehr zur Seite gestellt. Es war die Höchststrafe, der definitive Beweis, dass nicht einmal mehr seine sportliche Leitung an ihn glaubte. Nur sein alter Kumpel Mark Renshaw ließ sich aus Mitleid zurückfallen. Das Zeitlimit verpassten damals beide, wie auch Marcel Kittel übrigens, der Sprinter, der Cavendish als die Nummer eins abgelöst hatte.

Im Ziel wurde längst die Siegertribüne abgebaut, die Kameras und Mikrofone verstaut. Nur ein paar Getreue warteten. Ihnen war der Gedanke ins Gesicht geschrieben: An diesem Tag geht eine große Karriere zu Ende. Nicht nur sportlich erfolgte der Niedergang. Cavendish wurde klinische Depression diagnostiziert. Die Verzweiflung, sein altes Leben nicht mehr führen zu können, ergriff Besitz von ihm. Nicht ein Sturz, wie bei dem fast gleichaltrigen Chris Froome, war die Ursache, sondern ein Virus, das niemand in seinem Umfeld zunächst so recht kannte.

Fast drei Jahre dauerte die mentale und körperliche Wiederherstellung. Jetzt ist Cavendish wieder da, wo er zwischen 2008 und 2012 war. Bei seinem Durchbruch 2008 holte er vier Etappensiege, 2009 sogar sechs, 2010 und 2011 jeweils fünf, 2012 deren drei. Er war das Maß der Dinge im Sprint, genannt »Kanonenkugel«, weil er so unvergleichlich beschleunigen konnte.

Zur Tour de France 2021 kam er nur, weil sein alter Rennstallchef Patrick Lefevere nicht wollte, dass einer wie Cavendish sang- und klanglos aus dem Radsport verschwindet. Er gab ihm einen Vertrag mit Mindestsalär - ein Experiment für beide Seiten. »Ich habe gesehen, dass das alte Feuer wieder in ihm brennt«, sagte Lefevere zu »nd«. Cavendish holte erste Siege bei kleineren Rennen. Und als Sam Bennett, der etatmäßige Sprinter von Deceuninck-Quick-Step, ausfiel, wurde Cavendish im letztem Moment nominiert. Es folgten vier Siege. Gewiss, er profitierte vom besten Sprintzug im Peloton. Ihm kam auch entgegen, dass zahlreiche Konkurrenten ausfielen. »Caleb Ewan hätte ich nach dem Saisonverlauf stärker eingeschätzt als Cavendish. Wäre er nicht wegen des Sturzes raus, hätte er Cavendish sicher geschlagen«, meinte Roger Kluge, Anfahrer von Ewan bei Lotto Soudal zu »nd«. Er dürfte richtig liegen.

Aber von denen, die da sind, ist Cavendish gerade der schnellste, der schnellste auf flachem Terrain. Als es am Sonntag auf der 15. Etappe erstmals wieder richtig berghoch ging, fiel Cavendish aus dem Hauptfeld heraus. Im Unterschied zu 2018, bei seinem damals befürchteten Karriereende, kümmerten sich jetzt gleich drei Teamgefährten um ihn. Siege bringen Fürsorge, diese Erfahrung macht Mark Cavendish gegenwärtig bei der Tour. Er wird diese Fürsorge noch gut brauchen können. Von Dienstag bis Donnerstag stehen drei schwere Bergetappen in den Pyrenäen an. Erst am Freitag und dann am abschließenden Sonntag kann er hoffen, Eddy Merckx mit Sieg Nummer 35 zu entthronen. So lange heißt es: Leiden weit hinter dem Peloton.

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