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Staatsfeind im Exil
Auch in seinem Zufluchtsort Barcelona fürchtet der emigrierte ukrainische Blogger Anatoli Scharij um sein Leben
Kontakte zu Anatoli Scharij laufen über Vertrauenspersonen, um zu einem Gespräch mit ihm zu kommen. Der Journalist lebt zurückgezogen in seinem katalanischen Exil. Schon drei Jahre vor den Euromaidan-Protesten, die Anfang 2014 zum Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch führte, musste er wegen seiner investigativen Arbeit über organisierte Kriminalität und Korruption ins Ausland fliehen. Aber auch dort ist er nun einer tödlichen Verfolgung ausgesetzt. In Deutschland dagegen ist er noch fast ein unbeschriebenes Blatt, dabei haben fast 2,5 Millionen Menschen seinen YouTube-Kanal abonniert.
Seit zehn Jahren leben Scharij und seine Frau Olga Bondarenko mittlerweile im Exil, seit zwei Jahren in Spanien. An der katalanischen Küste haben sie im Umfeld von Barcelona ihre »neue Heimat« gefunden, sagt Bondarenko im Gespräch in einem Straßencafé. Obwohl sich die Lage der Familie weiter zuspitzt, sind beide guter Laune und freuen sich über das Sommerwetter. Litauen hat Scharij nämlich den Status eines politischen Flüchtlings aberkannt, der ihm seit 2012 gewährt wurde. »Das ist auf massiven Druck aus der Ukraine geschehen«, sagt der Journalist. Dieser Status erlaubte es ihm, sich frei in der Europäischen Union zu bewegen. Gegen die Aberkennung klagt er nun. Es kann ein Jahr dauern, bis eine Entscheidung fällt. Hoffnungen macht er sich aber nicht. »Litauen ist kein Rechtsstaat«, sagt der Mann, der mit kurzer Hose und Sonnenbrille wie ein Tourist daherkommt, und lacht dabei verschmitzt.
Seine Verfolgung begann noch unter der Regierung des einstigen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Nun werde er von der Regierung des neuen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj verfolgt, der seit Mai 2019 im Amt ist, sagt Scharij. Diese wirft ihm »Hochverrat« und »subversive« prorussische Tätigkeit vor. Sein akutes Problem ist aber weniger die Asylfrage, sondern die Tatsache, dass ukrainische Nationalisten herausgefunden haben, wo er lebt. Seit einem Jahr ist sein Haus zum Pilgerort von Nationalisten geworden. Er sei Angriffen ausgesetzt. »Wir fürchten nun auch hier in Spanien um unser Leben«, erklärt Scharij, der zu diesem Treffen ohne Bodyguards angereist ist. Wegen der Morddrohungen hat die Familie nun einen privaten Wachschutz angeheuert.
Für den Blogger reicht alleine das Bedrohungsszenario in Spanien, um die Begründung Litauens für die Aufhebung des Asylstatus zu widerlegen; demnach solle Scharij in der Ukraine nämlich keine Gefahr mehr drohen. »Was hat sich dort geändert? Nichts!«, empört sich Olga Bondarenko. Sie schüttelt dabei ihren Kopf mit dem langen blonden Haar. »Wir brauchen nun Schutz von Spanien vor ukrainischen Rechtsextremen«, erklärt Scharij. Er wünscht sich, dass Spanien einen Auslieferungsantrag ablehnt, den er schon bald erwartet. »In der Ukraine würde ich nicht länger als einen Tag leben«, sagt er. Man würde ihn ins Gefängnis werfen und seinen Tod als Selbstmord ausgeben. Davon ist er überzeugt.
Seine Frau fürchtet, dass er im Exil entführt oder ermordet werden könnte. Unbegründet ist das nicht. Andrij Bilezkyj etwa fordert offen die »physische Vernichtung« aller Mitglieder der 2019 gegründeten Partei Scharij. Bilezkyj ist nicht irgendein Rechter, sondern der Chef der Partei Nationales Korpus und Kommandeur des paramilitärischen Regiments Asow. In einem nationalistischen Video wird gefordert: »Tod dem Feind Anatoli.« Aufgemacht wie ein Propagandafilm des Islamischen Staats, werden Überfälle auf Scharij-Anhänger gezeigt. In einer Enthauptungsszene trägt das Opfer dessen Gesicht. Der Nationale Korpus hat einen Sarg mit seinem Bild durch die Straßen von Kiew getragen. Verfolgt würden die Vorgänge in der Ukraine nicht, erklärt der Journalist.
Aus ihrer Gesinnung machen diese Organisationen keinen Hehl. Sie benutzen zum Beispiel die Wolfsangel als Symbole, die auch von SS-Divisionen verwendet wurden. Bilezkyj saß mehr als zwei Jahre wegen Mordversuchs im Gefängnis, kam aber 2014 im Rahmen einer Amnestie frei, ohne dass ein Urteil gefällt wurde. Für die Kampfeinsätze gegen Aufständische im Donbass wurde er vom Ex-Präsidenten Petro Poroschenko ausgezeichnet, der von 2014 bis 2019 regierte.
Für Scharij ist klar, dass hinter dem Vorgehen gegen ihn auch die Selenskyj-Regierung steht. Deshalb sei gegen seine kleine Partei ein Verbotsverfahren eingeleitet worden. Für den Journalisten ist es unverständlich, dass der Präsident ständig seinen Namen im Mund führt und gegen ihn wettert. Seine Frau, gleichzeitig Parteichefin, erklärt aber, dass die Partei Scharij zusehends zu einer Gefahr für Selenskyj werde, dessen Beliebtheit nach Umfragen sinkt. Bei den Kommunalwahlen im Herbst 2020 kam die Scharij-Partei zwar nur auf 1,4 Prozent, zog aber mit 52 Abgeordneten in elf zum Teil wichtige Stadträte ein. Das habe die Wirksamkeit und die Aufmerksamkeit verstärkt. Das Programm der Partei kann so zusammengefasst werden: gegen selbstherrliche und autoritäre Präsidenten, gegen Krieg, Korruption, Russophobie und Antisemitismus. »Wir wollen friedlich für eine demokratische Ukraine kämpfen«, erklärt der Journalist.
Wie »El País« festgestellt hat, sind die Vorwürfe gegen Scharij an den Haaren herbeigezogen. Der »Hochverrat«, worauf eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren steht, wird damit begründet, dass er in den Jahren 2013 und 2014 zeitgleich mit dem Konflikt im Donbass zwischen prorussischen Kräften und der Ukraine durch die Veröffentlichung verzerrter Informationen »subversive« Aktivitäten Russlands unterstützt haben soll. Basis dafür ist ein Geheimdienstbericht, der dem »nd« vorliegt. So schreibt Oleh Olehovych Savenko vom Staatlichen Sicherheitsdienst, Scharij habe »mit kriminellem Vorsatz« gegen die »Souveränität, territoriale Integrität« und die »Verteidigungsfähigkeit und Informationssicherheit« gehandelt. Dabei sticht sofort ein Satz hervor: »Die Umstände konnten nicht durch die vorgerichtliche Untersuchung festgestellt werden«.
Dieser Satz ist auch wieder eingefügt, wenn es darum geht, dass Scharij angeblich »Absprachen mit Vertretern eines ausländischen Staates - der Russischen Föderation und Organisationen desselben Landes« getroffen haben soll, womit »russische Fernseh- und Radiounternehmen« benannt werden. Wegen einer »offensichtlichen Verachtung für den ukrainischen Staat und das ukrainische Volk« soll er mit nicht benannten Vertretern eines ausländischen Staates »subversive Aktivitäten gegen die Ukraine im Informationsbereich« unterstützt haben.
Diese Vorwürfe sind vage und weisen darauf hin, dass es vor allem um die Lufthoheit im Informationsraum geht. Dafür spricht, dass die Regierung Selenskyj nicht zimperlich mit Medien umgeht. Im Februar wurden die Fernsehkanäle 112, NewsOne und ZIK auf Anweisung des Präsidenten abgeschaltet. Sie wurden beschuldigt, »russische Propaganda« zu verbreiten. Diejenigen, die massive Probleme mit der Presse- und Meinungsfreiheit haben, werfen Scharij vor, er habe »Informationen speziell ausgewählt«, die »offensichtlich unzuverlässig, unvollständig und parteiisch« seien, um »Konflikte zu provozieren« und um »nationale, interethnische und soziale Feindschaft sowie Hass zu schüren und die Moral der Bevölkerung und der Armee der Ukraine zu untergraben«.
Als »Beweis« dafür wird ein Interview Scharijs im russischen Fernsehen herangezogen, wonach der Blogger erklärte, dass sich die Mitglieder der ukrainischen Armee bei ihren Aktionen im Osten nicht »Patrioten« nennen sollten. Außerdem sagt er, diese Äußerungen habe nicht er, sondern der Interviewer gemacht. Auch ein Gespräch mit einem russischen Kämpfer aufseiten der Aufständischen im Donbass, das Scharij veröffentlichte, muss gegen ihn herhalten. Der Moskauer erklärt in dem Video, dass »die Soldaten der ukrainischen Armee nicht erklären können, warum sie hier kämpfen«.
Auch »Propaganda für die Mehrsprachigkeit« als »subversive Aktivität« wirft man ihm vor, weil er kritisiert, dass seit Mitte Januar in der Ukraine vorgeschrieben ist, dass im Dienstleistungsbereich wie Geschäften und Restaurants kein Russisch mehr gesprochen werden darf. Die Anschuldigungen, die auf einer Reihe von Interviews und Videos basieren, seien hanebüchen, meint Scharij. Alle, die Selenskyj nicht unterstützen, würden als »prorussisch« abgestempelt.
Erneut zeigt er sein schelmisches und empörtes Lächeln. »Ich bin nicht prorussisch«, sagt Scharij. Dass er die Geheimdienstler, die ihm diese Vorwürfe machen, »dumme Schweine« genannt hat, finden sicher nicht alle gut. Aber auch daraus einen Terrorismusvorwurf zu zimmern, um seine Partei zu verbieten, ist absurd.
In Spanien haben Medien diverse Angriffe auf die Familie dokumentiert und Bilder von Überwachungskameras an ihrem Haus veröffentlicht. Ukrainische Nationalisten haben längst zur Jagd auf Scharij geblasen. Rodion Kudryashov, Vizepräsident des Nationalen Korpus, schrieb in seinem Telegram-Kanal: »Anatoli, jetzt weiß ich, wo du steckst.« Er erinnert die »Schwulensau« an den »Geist von 2014«. Sei man einst auf Prügel mit Baseballschlägern begrenzt gewesen, verfüge man heute »über Ausbildung und andere Mittel«. Die Drohung unterstreicht er mit einem Foto an einem Maschinengewehr. Allerdings finden sich im Internet auch Videos, auf denen zu sehen ist, wie Anhänger von Scharij mit Gewalt gegen ukrainische Nationalisten vorgehen.
»Es ist leicht, einen Mann in der Ukraine zu finden, der über die Ermordung von Anatoli zum Helden werden will«, ist Bondarenko überzeugt. Eine Strafe habe der in der Ukraine ohnehin nicht zu erwarten, meint sie. Es ist aber nicht einmal nötig, Killer nach Spanien zu schicken, wie es der Künstler Iwan Semesuk fordert. In einem Interview mit dem Blogger Sergii Ivanov, der auch nach eigenen Angaben »loyal« zur Selenskyj-Regierung steht und für sie bloggt, erklärte Semesuk: »Wir brauchen eine spezielle Operation, damit unsere Adler nach Spanien gehen und ihn töten.« Auch der Künstler gehört nach Angaben der spanischen Zeitung »El País« dem Nationalen Korpus an. Auch auf seinen Bildern tauchen immer wieder Wolfsangeln und Hakenkreuze auf.
Die Verbindungen zwischen spanischen Faschisten und ukrainischen Neonazis sind eng. Das spanische Fernsehen berichtet von Treffen zwischen spanischen Rechten und Vertretern des Nationalen Korpus. Dutzende Spanier haben im Regiment Asow gekämpft, sind in ihre Heimat zurückgekehrt und stellen nun eine potenzielle Gefahr für Scharij dar. Ebenso wie die ukrainischen Nationalisten in Spanien. Aleksandr Zolutukhin etwa, der in Barcelona lebt, veröffentlichte die Adresse von Scharij. Der ehemalige Asow-Kämpfer hatte 24 Euro ausgegeben, um über das Grundbuchamt an Scharijs Adresse zu gelangen. Die veröffentlichte er mit Fotos vom Haus und dem Auto von Bondarenko.
Zolutukhin selbst hatte dem britischen »Independent« 2014 erzählt, dass er als Scharfschütze an Kämpfen in der Ostukraine teilgenommen habe. Er wurde mit anderen Ukrainern vor gut einem Jahr wegen einer mutmaßlichen Entführung eines Journalisten festgenommen; die Ukraine einen internationalen Haftbefehl ausgestellt. Ausgeliefert wurde er bislang aber nicht. Sogar die Polizei kritisiert hinter vorgehaltener Hand den laxen Umgang mit solchen Leuten.
Die Bedrohungslage für Scharij ist so offensichtlich, dass auch die spanische Justiz tätig wurde. Er stoße zwar bei Behörden auf viel Verständnis, der nötige Schutz werde ihm aber bislang nicht gewährt. Der Ermittlungsrichter Eduardo Moreno wartet noch auf einen Bericht der Polizei, um eine Entscheidung zu treffen. Er betrachtet den Journalisten allerdings schon als geschützten Zeugen, zitiert die Zeitung »El País« aus dessen Akten. Die katalanische Polizei kam nach der Analyse der Vorgänge zu dem Ergebnis, dass Scharij und Bondarenko »wegen ihrer journalistischen Arbeit und ihrer Mitgliedschaft« in der oppositionellen Scharij-Partei verfolgt werden. Der Direktor des Amtes für bürgerliche und politische Rechte der katalanischen Regierung hat Scharij bestätigt, dass seine Familie die Bedingungen erfüllt, damit Spanien ihr Asyl gewährt. Darauf hofft sie nun angesichts der Vorgänge in Litauen besonders. Auf die Frage, ob es nicht besser sei, Spanien zu verlassen, erklärt Bondarenko kategorisch: »Nein. Das ist unsere neue Heimat hier. Und hier wurde auch unser Kind geboren.«
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