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Erregungshunger
Zum 70. Geburtstag des Theaterrevoluzzers Frank Castorf
Hebbels Nibelungen, Sartres Kommunisten, Müllers Revolutionäre: Wer Helden will, erzeugt Verbrecher. Büchners Bürger, Jahnns Könige, Platonows Bauern: Tugend ist immer auch Terror. Oder Schwejk, Don Juan: Dieser Welt entkommen wir nicht durch Türen, sondern durch Übermut. Döblins Biberkopf, von Horváths Kasimir und Karoline, Brechts Baal: Den Einsamsten frag, was Liebe sei. Goethes Faust: der Intellektuelle als Verbrecher - wenn er denn Avantgardist wird. Selbsterkenntnis als Großgefahr: Wer sich ehrlich ins Herz schaut, züchtet Infarkte.
Frank Castorfs Theater ist ein stolzer Autist, es nimmt sein Ursprungsrecht wahr: Rücksichtslosigkeit. Kunst muss das ideologisch Elende in uns blamieren, jene Anmaßung, etwas sei eindeutig so und alles andere demnach zweifelsfrei falsch. Castorf mag Wahrheiten, die keine Freunde brauchen. Mehrheiten schon gar nicht. Auch nicht im Publikum. Quäl dich, wie jede Aufführung sich quält - mit Fragen. Mit jenem »Hunger nach Erregung« (Rimbaud), die sich gegen das Genormte, gegen das lästige Gesinnungsenzym entzündet.
Malaparte, Pitigrilli, Céline, Hamsun: Das sind seine Autoren. Extremisten und Entgeisterte. Im Untergang das Vorgewitter sehen. An Fronten stehen und beobachten. Lust an dem haben, was sich den Wohlanständigen verbietet. Der Dialektik auf die Füße spucken, die immer den richtigen Weg zu kennen glaubt. Hin zu den Dämonen und Erniedrigten und Beleidigten und Idioten und Spielern - womit wir bei Dostojewski wären. Der ferne, nahe Osten ist Castorfs legendär gewordene Heil- und Geilstätte. Wo nichts an Rettung denken lässt, aber doch alles so lebendig bleibt, wie eben nur ein sehnender, süchtiger, säuischer Körper lebendig sein kann. Immer erst durch Entzug spüren wir, was uns fehlt. Das meint versunkene Welten, vertrunkenes Geld. Vertane Zuneigung sowieso.
Wer bei Castorf spielt, bleibt gezeichnet (Henry Hübchen, Kathrin Angerer und Bernhard Schütz, Milan Peschel, Herbert Fritsch und Jeanette Spassova, Silvia Rieger, Astrid Meyerfeldt, Lilith Stangenberg und Gerd Preusche). Welche Großtat des Regisseurs war es, an der Volksbühne, in Wendezeiten der fiesesten Verjüngungen und Abwicklungen, alte DDR-Barden - also alten Ost-Erfahrungsadel - aufs Feld barer Spiellust zu schicken (Wilfried Ortmann, Hildegard Alex und Annekathrin Bürger, Ulrich Voß, Jürgen Rothert, Hans-Joachim Martens und Bärbel Bolle; den augenzwinkernd groben Harald Warmbrunn, die schmetterlingszarte Susanne Düllmann, den grandios treuen und »taffen« Joachim Tomaschewsky).
Schauspieler sind bei ihm die unberechenbar flirrenden Buchstaben eines schier endlosen Fließtextes, der sich zu Lebensirrläufen fügt. Diese geschmeidige, brachiale Überspanntheit von Stimme und Bewegung. Brillant - brüllant. Sophie Rois: grazil giftig, tollkalt, federnd, eine hexische Diva. Der gangstercoole Texttänzer Alexander Scheer. Und was Martin Wuttke an zerschlissener, reiner »russischer Seele« geschaffen hat, an liebenswerter Wundheit, ist große deutsche Theatergeschichte. Marc Hosemann wirbelt und wuselt sich als Malocher durch die Abende. Die sehr, sehr lang sind: Mögen andere Uhren haben, Castorf hat die Zeit. Die dehnt sich ins Video-Universum der Ängste, wo die gepeinigten, gedunsenen, genervten Gesichter plötzlich nur noch eines sind: tief menschlich.
Hier haben Sportler die Kunst besetzt, auf dieser Bühne weiß jeder und jede, dass zuallererst Letztes abverlangt wird, nicht Inneres. Das Versinken in die Rolle verbindet sich mit einer bestechenden Intelligenz des souveränen Draußen- und Drüberstehens. »Willstndu. Haltdiefresse.« In jeder Vorstellung ist eine wunderbar gegerbte, geschundene Truppe zu sehen, einander Zerzausende und Schubsende, von allen guten Geistern verlassen. Der Schweiß treibt, der Trieb schwitzt. Gegen all das Moderate, das sich heute narkotisierend durch die Beziehungen frisst. Wir fürchten uns, am Tisch Platz zu nehmen, wo das Leben mit Behagen seine eigenen Herzstücke verspeist. Wir kleben lieber Treueherzen. Und so kommt der Tod nicht irgendwann, wir leben ihn immer schon.
Dunkel pochender Existenzialismus, aufgedreht ätzender Spott, das ist Castorf. Alles so scharf wie der Blick, den dieses Theater traditionell auf hochhackige Frauenbeine wirft. Die Laufmasche am Netzstrumpf als lockende Horizontlinie. Die Hure ist Perle und Plebs; Besitz ist Fluidum und Fluch. Theater, das eine scharfe Linie zieht von Schiller zu Dick und Doof, von Heiner Müllers »Schlacht« zur »Pension Schöller«.
Gesellschaft der Nichtschwimmer - Linke Melancholie: Frank Castorf bringt Erich Kästners Roman »Fabian« auf die Bühne des Berliner Ensembles
»Grundlinien der ›Entwicklung‹ der weltanschaulich-ideologischen und künstlerisch-ästhetischen Positionen Ionescos zur Wirklichkeit« - so lautet der Titel der Diplomarbeit des 1951 in Ostberlin Geborenen. Theaterwissenschaftler, Dramaturg - und dann Regisseur. Das deutsche Freiheitsschicksal schenkte Castorf 1992 die Berliner Volksbühne. 2017, zu seiner Abschiedsstunde, wird er in der Trutzburg mit Räuberrad und leuchtendem Schriftzug »Ost« ein Vierteljahrhundert Intendant gewesen sein.
Die SED, stalinistisch wie die Grashöhenmesser einer Kleingartenanlage, hatte den jungen Dramaturgen und Regisseur über Senftenberg, Brandenburg nach Anklam verdammt. Und dort antworteten die feierwitzigen Oblomows mit Wodka auf Verbote, mit Witzen auf Stasischnüffler. Castorfs Truppe träumte sich, indem sie sich frech in die DDR hineinfläzte, weiter weg vom Stacheldraht, als es dann im Westen je möglich werden würde. Seit dieser Konditionierung sieht Castorf in aller Welt nur Anklam. Ruhm und Route 66 - auch das nur Anklam. Das stählt, als wäre man Kortschagin. Da wird man grinsend trotzig und hängt sich als Intendant ein Stalin-Plakat ins Zimmer. Und schmiegt sich ins alte DDR-Mobiliar.
Die Volksbühne einte genial Christoph Marthaler und Christoph Schlingensief, René Pollesch und Johann Kresnik. Aber immer hat das Theater auch mit Müdigkeiten gekämpft. Das ist der Preis dafür, Grenzen zu überschreiten und doch heiter zynisch darauf zu hoffen, nirgends anzukommen. Castorf wollte als Intendant keine Struktur, er ließ alles »loofen«. Ins Geniale oder ins Gemeine. Er war Darwinist und Festungshauptmann. Ja, der Rosa-Luxemburg-Platz konnte auch eine Hölle sein. Aber jede Hölle ist das wahre Paradies für Kunst, nicht Kuschelei. Wie immer die sich politisch aufbläst.
Dieser »Regisseur des Welttheaters« (Ivan Nagel) hat heftige Fluchtbewegungen im Publikum ausgelöst, von Hamburg bis München, von Salzburg über Zürich bis Wien. Alles auf Castorf-Bühnen sieht aus wie eine Liaison von Philosophie und Peepshow. Ist es auch. Lessing: Ein Mann onaniert in ein Papier und wirft es ins Publikum. Shakespeare: Eine Königstochter liest uns Solschenizyn vor. Tennessee Williams: »Endstation Amerika« - Aufstiegsträume eines osteuropäischen Immigranten als Polenwitz. Castorf spielt gnadenlos gern mit Verschlingungen der Geschichtsstränge. Die Moorsoldaten wühlen im Stalinismus-Schlamm. Die Internationale erkämpft den Menschenknecht. Schillers Räuber als das Volk prügelnde Volkspolizisten.
Diese Regie erhitzt sich an jener Unübersichtlichkeit, wo Gut und Böse, Pisse und Pathos, rote Fahne und Schnapsfahne hilflos ineinanderstürzen. Denn immer haben wir, wie Volker Braun schrieb, an mehreren Welten zu würgen. Der Glaube klebt sich Coca-Cola-Signets an die Portale, der moderne Mensch hat nichts weiter zu verlieren als seine Kaufhausketten. Erwartung und Entzauberung grinsen gemeinsam über jene Verlässlichkeit des Menschen, mit der er beides verwechselt: die Hoffnung mit der Illusion und die Entfesselung mit der Selbstaufgabe.
Ein Berliner Eisenhändlersohn. Eisen ist glühend, oft glänzend. Manchmal Schrott. Aber auch der wird eisern lustvoll präsentiert. Man weiß als Zuschauer nie, ob man gerade einem totalen Tiefpunkt oder einem absoluten Höhepunkt beiwohnte. Wir stürzen tief ab in diesen Sessions. Aber reden hinterher vom Höhenflug. Frank Castorf, grandioser alter weißer Mann, ist einer der rabiatesten, feinsten Gründe, das Regietheater zu lieben. Heute wird er 70.
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