Die fast vergessene Pandemie

Mit HIV erhöht sich das Risiko, an Covid-19 zu sterben - mehr Impfungen in ärmeren Ländern gefordert

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Lockdown und andere Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie erschweren laut dem UN-Programm Unaids den Kampf gegen HIV, so hieß es in der vergangenen Woche bei der Vorstellung einer neuen Studie in Genf. Die Corona-Politik vieler Länder führe dazu, dass zum Beispiel weniger auf HIV getestet sowie entsprechend später und weniger behandelt werde. In der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal etwa seien die Tests nach der Verhängung des ersten Lockdowns im April 2020 um die Hälfte zurückgegangen. Gesundheitspersonal, das unter anderem für die HIV-Vorsorge tätig war, wurde für Aufgaben bei der Covid-19-Bekämpfung herangezogen.

Laut dem Unaids-Bericht haben Menschen, die mit HIV leben, zudem ein doppelt so hohes Risiko, an Covid-19 zu sterben, wie die Allgemeinbevölkerung. Das kann an zusätzlichen Risikofaktoren der Infizierten, wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, liegen. Die meisten Infizierten hatten Mitte 2021 keinen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen. Unaids forderte in diesem Zusammenhang eine gerechtere Verteilung der Corona-Impfstoffe - nur so könnten die Gesundheitssysteme der Entwicklungs- und Schwellenländer entlastet werden. Im subsaharischen Afrika, wo zwei Drittel aller HIV-positiven Menschen leben, sind erst drei Prozent der Bevölkerung geimpft. Die Impfstoffe könnten Millionen von Leben retten, würden aber von reichen Ländern und Konzernen zurückgehalten, kritisierte das Hilfsprogramm.

Diese aktuelle Einschätzung der UN-Organisation wird auch die Debatten der am Sonntag eröffneten HIV-Wissenschaftskonferenz der International Aids Society mitbestimmen. Die Tagung war eigentlich in Berlin geplant und fand wegen Corona nun online statt. Aids-Aktivistin Yvette Raphael aus Südafrika monierte bei der Eröffnung die schleppende Verteilung der Corona-Impfstoffe in ärmeren Ländern. »Sie können sich nicht als entwickelte Welt betrachten, solange Ihre Menschlichkeit nicht entwickelt ist«, sagte sie. Zu Wort meldete sich hier ebenfalls der US-Immunologe Anthony Fauci, Chefberater auch des aktuellen US-Präsidenten Joe Biden. Er erinnerte daran, dass die schnelle Entwicklung der Corona-Impfstoffe der Vorarbeit auf dem Gebiet von HIV und Aids zu verdanken sei.

Eines der ersten Fachsymposien war der Selbsttestung auf HIV gewidmet. Das Interesse daran ist in der vergangenen Dekade weltweit gewachsen, diese Möglichkeit trägt zur Selbstbestimmung potenziell Betroffener bei und erleichtert den Zugang zu den Gesundheitssystemen. Die entsprechende UN-Empfehlung von 2016 wurde vielerorts umgesetzt. Auf der Veranstaltung wurden sowohl der Fortschritt dabei sowie Nutzen und Gefahren von Selbsttests diskutiert, nicht nur in Bezug auf HIV, sondern auch, was sexuell übertragbare Krankheiten sowie Hepatitis-C-Viren betrifft. Hier rechnen die Experten mit Wechselwirkungen mit dem Herangehen an die Sars-CoV-2-Selbsttestung und den Erfahrungen damit. In Deutschland zum Beispiel gibt es weiterhin Aufklärungsbedarf zu HIV und Aids. Selbsttests und Beratung sind noch nicht - wie für das Coronavirus - überall zugänglich. Deshalb fördert etwa die Deutsche Aids-Stiftung entsprechende Projekte. Da es keinen Impfstoff oder keine Heilung für HIV gibt, bleiben der Schutz vor diesem Virus, regelmäßige Tests und ein früher Therapiebeginn entscheidend.

Ein weiteres Thema auf der Konferenz waren die Reservoirs, in denen HI-Viren jahrelang im menschlichen Körper überdauern können. Sie gelten als das größte Hindernis für die Heilung, sind aber noch ungenügend erforscht. Die nun schon länger zur Verfügung stehende antiretrovirale Therapie (ART) hemmt zwar die Vermehrung der Viren und verhindert die Übertragung auf andere Personen, kann aber die Reservoirbildung nicht verhindern. Wird die ART unterbrochen, kommt es fast immer zu einem Wiederanstieg der im Blut messbaren HI-Viren.

Forscher vom Universitätsspital Zürich stellten Erkenntnisse aus ihrer Langzeit-Beobachtungsstudie zur Erforschung der Reservoirs vor. Kleinere Studien hatten schon gezeigt, dass sich die Größe der Reservoirs individuell auch unter der ART stark verändern kann. Das ergab aber noch kein umfassendes Bild von den Faktoren, die hier wirken, und über die Veränderungen im Laufe der Therapie. Nun wertete das Forscherteam in aufwendigen Testreihen Blutproben und die dazugehörenden Daten von 1057 Personen aus, die über viele Jahre erfolgreich mit einer ART behandelt wurden.

Im Durchschnitt fand sich eine Abnahme der Größe der Reservoirs während der ersten 5,4 Jahre nach ART-Beginn. Über die Beobachtungsdauer flachte der Abfall der Reservoirs deutlich ab und schien sich einem Plateau zu nähern. Entgegen den Erwartungen fand sich jedoch trotz erfolgreicher Therapie bei mehr als einem Viertel der analysierten Personen ein in der Größe zunehmendes Reservoir. Mangelnde Therapietreue der Patienten schließen die Forscher als Ursache aus, planen aber weitere gezielte Studien. Eine Möglichkeit der Erklärung wäre, dass sich latent infizierte Zellen trotz ART teilen.

2020 lebten weltweit fast 38 Millionen Menschen mit HIV/Aids, es wurden 1,5 Millionen neue Infektionen registriert. Besonders häufig infizieren sich homosexuelle Männer, Prostituierte, transsexuelle Frauen und Menschen, die sich Drogen spritzen. Insgesamt starben bisher 36 Millionen Menschen an Aids. Vor 40 Jahren wurde die Immunschwächekrankheit erstmals in einem US-Wissenschaftsjournal beschrieben.

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