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Der Konsum-Zombie als Chiffre
Filzbärte, Punks und Yuppies: Der Popjournalist Jens Balzer hat eine Kulturgeschichte der 80er Jahre geschrieben, die auch Aufschluss über Phänomene der Gegenwart liefert
Jens Balzers Buch »High Energy. Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt« wird seinem Titel absolut gerecht. Schon das erste Kapitel des Buches ist fantastisch. Der Autor führt seine Leser*innen anhand der Kleidungsstile und Frisuren verschiedener Milieus und Szenen über die Jahrzehntschwelle von den 70ern in die 80er hinein.
Beim Lesen seiner plastischen Erzählung fühlt man sich wie in einem mit einer Drohne gefilmten Panorama. Rasante Kameraschwenks, kühn konstruierte Übergänge und schnelle Schnitte. Mit den Schlabberpullis und den Filzbärten der Grünen kommt die Protestbewegung der 60er und 70er Jahre im Bonner Bundestag an und irritiert die Anzug- und Krawattenträger des Polit-Establishments.
Dann folgt der Schwenk auf die nihilistische Protestszene der grobschlächtigen Punkbewegung gegen die grünen Ex-Hippies und das konservative Polit-Establishment. Punk wiederum findet seinen Gegenpol in den versnobten und wohlstandsverwöhnten Poppern.
Und schon wähnt man sich auf einer kleinen Modenschau im Kern der politischen Kämpfe Anfang der 80er Jahre. Von Helmut Kohls geistig-moralischer Wende, die auf verlorenem Posten versucht, die Zeit auf vor 1968 zurückzudrehen, über die frühen Grünen, die den Nato-Doppelbeschluss und konservative Konventionen bekämpfen, bis zu den alles verneinenden Subkulturen, die aus dem Punk hervorgegangen sind und sowohl die konservative wie auch die grüne Hypermoral ablehnen. »Alle wollen die Wende«, beschreibt Balzer die Situation am Beginn des Jahrzehnts.
Anhand der Fernsehserien »Schwarzwaldklinik« und »Ich heirate eine Familie« führt der Autor seine Leser*innen in die »Neue Unübersichtlichkeit der Liebes- und Lebensverhältnisse« ein.
Dabei geht es ihm nicht um eine Liebeserklärung an diese beiden Fernsehklassiker. Balzer zeigt, wie sehr diese scheinbar konservative und triviale Populärkultur gesellschaftliche Entwicklungen spiegelt und multipliziert. Immerhin geht es in beiden Fernsehserien um jeweils geschiedene Menschen, die Patchworkfamilien gründen. Und in beiden Serien werden die Männer damit konfrontiert, dass ihre Frauen karrieretechnisch an ihnen vorbeiziehen.
Diese neue Realität unterlegt Balzer sorgsam mit Statistiken zu Scheidungs- und Heiratsquoten. Anhand der Schulterpolster von Modern-Talking-Sänger Thomas Anders, des androgynen Auftretens des Sängers Prince und Margaret Thatchers Kleidungsstil führt Balzer seine Leser in die Theorien von Michel Foucault und Judith Butler zur Konstruiertheit und Hybridität von männlichen und weiblichen Identitäten ein.
Nach dem Prinzip von Google Earth zoomt Balzer hier von den Details im »1999«-Videoclip von Prince immer weiter ins Allgemeine und Theoretische hinaus, ohne dabei die narrative Bodenhaftung zu verlieren.
In ähnlicher Weise handelt er die Mediengeschichte der 80er ab. Als roter Faden dient ihm hier der Zombie, den er anhand der Filme von George A. Romero und Michael Jacksons »Thriller« einführt. Zombies im Film, Zombies in den neuen Computerspielen und Zombies in der Musik. Das Symbol des Konsum-Zombies wird in den 80ern allgegenwärtig, als eine Chiffre der Individualisierung.
Die sexuelle Befreiung kommt ebenfalls in den 80ern, aber anders als gedacht: in Form von Pornovideokassetten. Anhand Jane Fondas berühmter Aerobic-Videos und des Arnold-Schwarzenegger-Films »Terminator« erklärt der Autor die Feinheiten der Körperoptimierung, die ihn direkt von Schwarzenegger zu Donna Haraways berühmtem »Cyborgmanifest« führen.
Mit dem Kinohit »Zurück in die Zukunft« zeigt Balzer den engen Zusammenhang zwischen einem nostalgischen Blick in die Vergangenheit und der historischen Gewordenheit der Gegenwart. Und von da aus ist es nur ein kurzer Weg zur Samplingkultur des Hip-Hops, der mit Jazzsamples und Rap ebenfalls einen Weg von der Vergangenheit zurück in eine emanzipative Zukunft sucht.
Der Höhepunkt des Buches ist die Analyse der aufkeimenden neoliberalen Yuppie-Börsenbroker-Szene anhand des Oliver-Stone-Films »Wallstreet« und des Tom-Wolfe-Romans »Fegefeuer der Eitelkeiten«. Von hier aus beginnt Balzer mit den Mobiltelefonen, dem Tomaten-Mozzarella-Salat und vor allem den neuen entfesselten Märkten bereits die Spur in die 90er zu legen.
Auf seinen Autorenfotos inszeniert sich der Pop- und Kulturjournalist Balzer oft wie ein mysteriöser Magier. Viel Schatten, tiefer Blick und geheimnisvolles Schwarz-Weiß. Und vielleicht ist das auch gar nicht so falsch. Denn Balzer ist der große Wisser unter den Popjournalisten.
Aber nicht nur das. Er ist auch ein großer Stilist. Federleicht gleitet man als Leser*in durch seine zielsicheren und assoziativ angelegten Erzählungen. Mit »High Energy« entfaltet der »Rolling Stone«- und »Zeit«-Autor sein ganzes Können. Der Text platzt fast vor Informationsdichte und Theoriesättigung, ist aber trotzdem extrem angenehm und vor allem spannend zu lesen. Warum können nicht alle Sachbücher so sein?
Vor fünf Jahren gelang Balzer mit seinem Buch »Pop. Ein Panorama der Gegenwart« eine kluge Bestandsaufnahme der Popmusik des Jahres 2016. Drei Jahre später veröffentlichte er eine Art Prequel. Das Buch »Das entfesselte Jahrzehnt« befasste sich mit den 70er Jahren. Viele rote Fäden und Diskontinuitäten führt er jetzt in »High Energy« weiter.
In mindestens dreifacher Weise bietet Balzer einen neuen Zugriff auf die Geschichte der 80er Jahre. Erstens greift er auf die Erkenntnisse von Bodo Mrozeks 2019 erschienener wegweisender Studie »Jugend/Pop/Kultur« zurück. Pop, erklärt Mrozek, sei eine Chiffre sozialen Wandels. Er verstehe Pop als »einen mit anderen zeithistorischen Prozessen eng verschränkten Kernbereich der Geschichte - verbunden etwa mit der Wirtschafts-, Konsum- oder Protestgeschichte«. Pop sei der mediale Repräsentationsmodus für soziale Großgruppen. »Auf popgeschichtlichem Gebiet lässt sich die Entstehung von Körpertechniken, neuen Politiken und Identitätskonzepten nachvollziehen«, erklärt Mrozek. Genau diesem Programm ist Balzer bei der Konzeption seines Buches verpflichtet.
Auf dieser Grundlage entfaltet er ein komplexes Panorama der Geschichte der 80er. Dabei ist er sich, zweitens, stets seines Standpunktes bewusst. Der Geschichte könne man nicht entkommen, schreibt er. »Man kann lediglich versuchen, sie in ihrer Bedeutung für die eigene Gegenwart zu verstehen.« Und genau das tut er.
Sein Buch führt zu einem neuen Verständnis unserer Gegenwart über eine Interpretation der 80er Jahre. Seinen Schwerpunkt legt Balzer dabei auf die Identitätspolitik. »Selbst wenn man weiß, dass Identität nichts anderes ist als ein Maskenspiel, hat man damit noch lange nicht den Kampf mit jenen Mächten gewonnen, die einem immer neue Masken aufsetzen wollen - weil eine Welt ohne Identitäten und Identifizierung das Ende ihrer eigenen Privilegien und Herrschaft bedeuten muss.«
Ein dritter Aspekt sorgt bei den Leser*innen für einen Sympathiebonus. Denn immer wieder greift Balzer, Jahrgang 1969, auf seine eigenen Erfahrungen und Erlebnisse aus den 80er Jahren zurück. Auch damit verfolgt er den roten Faden der Identitätspolitik. Er webt in seine Biografie der 80er Jahre seine eigene Lebensgeschichte mit ein. Das ist legitim, denn jede Biografie, meint die Literaturwissenschaftlerin Angela Steidle in ihrer »Poetik der Biografie«, sei auch eine Autobiografie. »Biografin und Biografie bilden ein Produktionspaar, das einen phasenverschobenen Dialog führt«, erklärt Steidle. Und genau dieses Verhältnis nutzt Balzer produktiv für sein Erzähl- und Deutungsprojekt.
Jens Balzer: High Energy. Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt. Rowohlt, 400 S., geb., 28 €.
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