Die Masken hinter den Gesichtern
Ein Rückkehrer gerät in den Zwickauer Sumpf
Niemand interessiert die Schreibweise, der Name bleibt für immer negativ behaftet. Für Erich Honegger kommt es noch viel schlimmer. Kurz vor dem Mauerfall flüchtet der Junge mit seinen Eltern nach Wien, kann sich ein neues Leben aufbauen. Doch ein schrecklicher Jagdunfall 2005 macht ihn zu einem Monster. Jahre der Isolation und Einsamkeit folgen. 2018 erhält Honegger endlich ein neues Gesicht, wagt sich wieder unter Menschen. Sein erster Weg führt ihn zurück nach Zwickau, seiner Heimatstadt. Eine gnadenlose Hetzjagd beginnt. Offensichtlich erhielt Honegger das Gesicht eines ehemaligen Erziehers des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau ...
PROLOG
Unachtsamkeit rächt sich, Herbst 2005
Heute ist die erste Bewährungsprobe für den knapp einjährigen Hasso, einen Weimaraner-Jagdhund, der mit seinem Herrchen an diesem klaren, kühlen Septembermorgen des Altweibersommers erstmals auf der Pirsch unterwegs ist. Inzwischen ist die Sonne aufgegangen, die Nebelschwaden haben sich verflüchtigt. »Bei Fuß«, flüstert Erich Honegger seinem vierbeinigen Jagdgefährten zu, »ganz ruhig und leise.« Gehorsam befolgt der Hund das Kommando, fixiert auf seine Aufgabe, sieht immer wieder zu seinem Herrn hoch, will eine Bestätigung, dass er alles richtig macht. Doch das Wild lässt sich nicht blicken, worüber der Hobbyjäger gar nicht enttäuscht ist. Ihm geht es mehr um die Ruhe, den Einklang mit der Natur, die gute Luft im Waldviertel in Niederösterreich.
»Sitz und Platz«, befiehlt Honegger, »Zeit für eine Pause.«
Hasso legt sich hin, sein Herrchen macht es sich auf einem großen Stein bequem. Die Schrotflinte lehnt er an einen Baumstamm. Honegger nimmt eine Proviantdose aus seiner Jacke, Hasso sieht ihm interessiert zu. Das kluge Tier weiß, da drinnen ist Essen und vielleicht fällt etwas ab. Honegger beißt in die Wurststulle. Hasso steht unaufgefordert auf, blickt ihn treuherzig an.
»Sitz und Platz.«
Betteln ist nicht erlaubt. Aber der intensive Geruch ist für die feine Hundenase eine zu große Verlockung, da hat der Gehorsam das Nachsehen. Der Hund versucht es wieder, diesmal mit Wedeln, doch Honegger bleibt hart, fordert ihn erneut in scharfem Ton auf, sich hinzulegen. Widerwillig fügt sich Hasso, sein Blick spricht Bände. Dabei stößt er mit dem Hinterteil das Gewehr um.
Grell blitzt das Mündungsfeuer auf, ein ohrenbetäubender Knall, ein fürchterlicher Schrei gellt durch den Wald. Erich Honegger hat kein Gesicht mehr. Die Schrotladung hat ihn voll erwischt. Sein Kopf ist eine einzige, undefinierbare, blutige Fleischmasse. Rücklings stürzt er vom Stein, fällt in tiefe Bewusstlosigkeit. Instinktiv spürt Hasso, dass es seine Schuld war. Der Hund winselt, bellt, stupst sein Herrchen vergeblich an. Ziellos läuft und streunt das Tier herum. Das verzweifelte Hilfesuchen ist erfolgreich. Ein älterer Pilzsucher wird auf Hasso aufmerksam, folgt dem aufgeregten Hund und findet Honegger.
Neu geboren
Dreizehn Jahre später, 2018
Heute ist der große Tag, Honeggers zweiter Geburtstag. In wenigen Minuten wird ein Mensch wiedergeboren. Dreizehn endlos scheinende Jahre der Isolation und Einsamkeit, 4745 Tage, 123.880 Stunden des Schmerzes, der Enttäuschung, der Verbitterung, der geplatzten Hoffnungen und Träume sind nun in wenigen Minuten endgültig vorbei. Heute werden seine Verbände abgenommen und Erich Honegger kehrt ins pralle Leben zurück. Seinem Hund Hasso ist er nie böse gewesen. Obwohl Honeggers Eltern darauf bestanden, das Tier sofort nach dem Unglücksfall einzuschläfern, setzte er sich durch. Schließlich war es Honeggers eigene Schuld gewesen. Die wenigen Minuten der Unachtsamkeit, die Schrotflinte ungesichert an den Baumstamm gelehnt, den Hund nicht unter Kontrolle, hatten das Drama ausgelöst. Hasso, inzwischen selbst betagt, ist ihm ein treuer Freund und Wegbegleiter geblieben. Im Gegensatz zu vielen Menschen, denen Optik und Äußerlichkeiten weitaus mehr bedeuten als andere Werte, ist es dem Hund egal, wie sein Herrchen aussieht.
Nach langen Aufenthalten in unterschiedlichen Kliniken, in denen alles Menschenmögliche versucht wurde, Erich Honegger zu helfen, um ihm danach ein halbwegs würdiges Leben zu ermöglichen, musste er viele Monate nach dem Unfall eines Tages entlassen werden. Ein dreizehnjähriger Spießrutenlauf nahm seinen Anfang.
Dabei hatte er Riesenglück im Unglück. Sein Augenlicht war verschont geblieben, dafür hatten ihn unzählige Schrotkugeln skalpiert, seinen Kopf gleichsam gehäutet. Chirurgen versuchten durch Transplantationen mit Haut von seinen Oberschenkeln und vom Gesäß halbwegs ein neues Gesicht zu modellieren, entnahmen seinem Körper auch Knochenteile, doch letztendlich musste er sich mit einer Fratze zufriedengeben. Honegger machte seinen Ärzten nie Vorwürfe. So wie er ausgesehen hatte, als ihn der Pilzsammler fand und er mit dem Notarzthubschrauber ins Krankenhaus geflogen worden war, grenzt es an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Das beschauliche Waldviertel in Niederösterreich besiegelte sein Schicksal. Nach ihrer Flucht aus der DDR hatte Familie Honegger in Wien auf ein besseres Leben gehofft, eine unbeschwerte, gesicherte Zukunft. Und der Traum ging in Erfüllung, bis ein einziger Augenblick der Sorglosigkeit sämtliche Pläne vernichtete, das Schicksal grausam aus heiterem Himmel zuschlug.
Damals, vor dreizehn Jahren, verwandelte sich der gutaussehende Mann in den besten Jahren binnen Sekundenbruchteilen in ein Monster. Dem man auswich, erschreckt zusammenzuckte, wenn man ihm auf der Straße begegnete, die Seite wechselte. Über den man hinterrücks raunte und tuschelte oder unverfroren mit dem Finger auf ihn zeigte, böse Witze riss und unverhohlen seine Abneigung zeigte. Kinder blieben mit offenen Mündern stehen, versteckten sich hinter ihren Müttern und Vätern. Jugendliche neckten, beschimpften ihn und spielten ihm böse Streiche. Nur Hasso wich nie von seiner Seite.
Die Bösartigkeiten, die Gehässigkeiten, die offen gezeigte Ablehnung hinterließen ihre Spuren an Erichs Honeggers Selbstbewusstsein. Die unzähligen Nadelstiche ließen seine Seele vernarben. Nach und nach zogen sich Freunde und Bekannte der Familie zurück, hatten immer neue Ausreden parat, um Einladungen nicht annehmen zu müssen, bis endgültig die Kontakte versandeten. Ebenso wenig hielt Honeggers Freundin durch. Als ihm erstmals seine Verbände abgenommen wurden und sie sah, was aus ihrem Freund und künftigen Ehemann geworden war, stürzte sie schluchzend aus dem Krankenzimmer, fand nicht einmal den Mut, ihm persönlich Adieu zu sagen. Ein paar Tage später erhielt er einen Brief mit ein paar lapidaren Zeilen. Sie meldete sich nie wieder bei ihm. Honegger konnte sie verstehen. Als er zum ersten Mal den Spiegel in die Hand nahm, blickte ihm eine entstellte Fratze entgegen, die zwar durch Haut- und Knochentransplantationen annähernd einem menschlichen Gesicht gleichkam, aber von einem normalen Antlitz weit entfernt war. Wer will schon mit so einem Monstrum ein Leben lang Tisch und Bett teilen?
Unzählige Male plagten ihn düstere Selbstmordgedanken, griff er wiederholt nach Medikamentenschachteln, nach einem Strick, setzte sich in der Badewanne die Rasierklinge an den Pulsadern an. Im letzten Moment kam er jedes Mal zur Besinnung, wollte es seinen Eltern nicht antun. Sie opferten sich für ihn auf, unterstützten ihn, soweit sie konnten. Mehr und mehr zog er sich in die innere Isolation zurück, kehrte wieder in die elterliche Wohnung, in sein altes Zimmer zurück. Seine eigene Behausung musste er räumen. Eine Unterschriftenaktion der Hausgemeinschaft an den Vermieter zwang Erich Honegger zum Auszug. Sie wollten mit so einem, wie sie sich ausdrückten, nicht länger unter einem Dach leben. Für seine Eltern blieb das einzige Kind trotz des Handicaps weiterhin ihr Sohn.
Seine Tore zur Welt waren seine Bücher, der Fernsehapparat und später kam das Internet hinzu. Seine einzige Berührung mit der realen Außenwelt waren zweimal täglich Rundgänge mit Hasso im Viertel. Immer den Blick auf den Boden gerichtet, nicht nach links und rechts schauen, selbst bei warmen Temperaturen mit Kappe und vermummt mit einem Tuch oder Schal. Längst hatten sich die meisten Leute in seiner Umgebung an seinen Anblick gewöhnt, ließen ihn in Ruhe. Manche wechselten sogar hin und wieder ein paar Worte mit ihm. Doch er spürte immer die bohrenden, neugierigen Blicke, selbst durch die dickste Vermummung. Oft vergrämte Honegger die Leute, wenn sie ihm im guten Glauben Worte des Trostes und der Anteilnahme sagten. Dann wies er sie schroff zurecht. Alles konnte er brauchen, nur kein Mitleid.
Vor einigen Jahren verstarb sein Vater an Staublunge, den Spätfolgen der Schwerarbeit unter Tage als Bergmann. Erich Honegger ist ein Einzelkind, also blieb nun alles an der Mutter hängen. Zwar gab es »drüben« in der ehemaligen DDR noch einige Verwandte, jedoch waren sie allesamt überzeugte Erzkommunisten. In ihren Augen waren die Honeggers Republikflüchtlinge, wie es im offiziellen SED-Sprachgebrauch hieß, und mit solchen Leuten wollten sie nichts zu tun haben. Zudem waren diese Verwandten mehrmals von der Stasi, der Staatssicherheit, vorgeladen worden, mussten Rede und Antwort stehen, waren durch das Abhauen der Honeggers in den Westen selbst in eine missliche Lage geraten. Heute, sofern sie noch leben, sind sie bereits im fortgeschrittenen Alter. Es gibt keinerlei Kontakt mehr, zu viele Jahre sind ins Land gezogen.
Erich Honegger war kein Pflegefall, er war mobil, half und unterstützte seine Mutter in allen Belangen des täglichen Lebens. Alles, was in den vier Wänden zu machen war, übernahm er. Nur Einkäufe überließ er der Mutter. Supermärkte, Einkaufszentren und Geschäfte waren für ihn ein Gräuel. Nachdem eine Kassiererin bei seinem Anblick fluchtartig und schreiend ihre Kasse verlassen hatte, weil sie ihn wegen seiner Maskierung für einen Räuber gehalten hatte, reichte es Honegger endgültig. Inzwischen über vierzig Jahre alt bezog er eine Invalidenrente, konnte seinem geliebten Beruf nicht mehr nachgehen. Bevor sich dieser verdammte Schuss gelöst hatte, hatte einer viel versprechenden Universitätskarriere nichts im Wege gestanden. Der promovierte Historiker mit Schwerpunkt Zeitgeschichte konnte aufgrund seines verunstalteten Gesichts nicht mehr im universitären Betrieb arbeiten und wollte es auch nicht. Zu groß waren die seelischen Wunden und weitere würde er nicht mehr aushalten.
Honegger betrieb von seinem ehemaligen Kinderzimmer aus seine Studien, hatte sich im Laufe der Jahre auf die Erforschung der Geschichte seiner alten Heimat, der DDR, spezialisiert, arbeitete gelegentlich von zu Hause aus für das Institut für Zeitgeschichte der Wiener Universität.
Vor einigen Jahren sah Honegger in einem Fernsehmagazin erstmals einen Bericht über eine erfolgreich durchgeführte Gesichtstransplantation. Fasziniert von dieser medizinischen Meisterleistung ließ ihn dieses Thema nicht mehr los. Erich Honegger setzte Himmel und Hölle in Bewegung. Die Chance, vielleicht auch ein neues Gesicht und damit ein zweites Leben zu bekommen, beschäftigte ihn Tag und Nacht. Bislang war in Österreich noch nie eine derartige Operation in Angriff genommen worden. Aufgrund der enormen Kosten für einen derartigen Eingriff legten sich auch die Krankenkassen quer. Für Honegger und seine Mutter wären diese finanziellen Belastungen unmöglich.
Günther Zäuner
Janusfratze
Lychatz Verlag
318 S., geb., 19,95 €
Günther Zäuner wurde 1957 in Wien geboren. Nach Matura und Studium der Geschichte, Zeitgeschichte und Klassischen Philologie sowie einer musikalische Ausbildung arbeitete er als Lehrer für Latein, Geschichte und Musik. Seit 1983 ist er als freier TV-, Radio- und Print-Journalist für den ORF und verschiedene ausländische TV-Anstalten tätig. Seine Schwerpunktthemen sind Organisierte Kriminalität, Drogen, Sekten, Rechtsextremismus und Terrorismus. Er ist Verfasser zahlreicher Kriminalromane und Krimi-Drehbücher.
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