- Politik
- 20 Jahre G8-Protest in Genua
Steiles Machtgefälle
Die brutale Repression während des G8-Gipfels von Genua vor 20 Jahren blieb für die Täter meist folgenlos
Wenn man sich heute, 20 Jahre später, an das erinnert, was sich während des G8-Treffens im italienischen Genua ereignete, fällt einem wohl vor allem Carlo Giuliani ein, der 23-jährige Student, der während der großen Demonstration der sogenannten Globalisierungskritiker von einem ähnlich jungen Carabiniere erschossen wurde – und das unter Umständen, die nie ganz geklärt wurden.
Einige erinnern sich vielleicht auch an den Überfall auf die Schule »Diaz«, bei dem die Polizei Dutzende von Demonstranten brutal zusammenschlug und als Vorwand Waffen benutzte, die sie – das wurde nur wenige Stunden später bekannt und belegt – selbst hineingeschmuggelt hatte. Andere mögen auch noch die grausamen Erzählungen der Globalisierungsgegner in Erinnerung haben, die stundenlang in der Polizeikaserne »Bolzaneto« eingesperrt waren und dort das erdulden mussten, was der Europäische Gerichtshof in Straßburg 15 Jahre später als »Folter« bezeichnete.
Über die »Tage von Genua« gibt es unendlich viel Dokumentarmaterial; mehrere Bücher wurden darüber geschrieben und auch Filme gedreht. Aber trotzdem bleiben einige »blinde Flecke« oder »schwarze Löcher«. Auch wenn es banal klingt, stimmt es eben doch, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird!
Dass sich kaum jemand an die Beschlüsse erinnert, die damals hinter Stacheldrahtzäunen und meterhohen Betonmauern von den »Mächtigen der Welt« gefällt wurden, ist nicht weiter verwunderlich. Seltsamer ist vielleicht, dass auch die Inhalte einer Bewegung in Vergessenheit geraten sind, die damals Hunderttausende in die italienische Hafenstadt gerufen hatte. Heute erinnert eine Ausstellung in Genua daran, die den Namen »Kassandra« trägt. Denn eines ist klar: Fast alles, was die »Bewegung der Bewegungen« Anfang dieses Jahrtausends aufs Tapet gebracht hatte, ist heute bittere Wahrheit und weiterhin brandaktuell. Stefano Galieni schreibt auf »Transform! Italia«: »Schon allein der Slogan ›Ihr G8, wir 6 Milliarden‹ zeigt, wie plural die Bewegung war. Es ging um Umwelt, als Greta Thumberg noch nicht geboren war, es ging um die Umverteilung der Ressourcen, angefangen mit dem Wasser, um die Bekämpfung von Krankheiten und die gerechte Verteilung von Medikamenten und Impfstoffen. Aber wir haben in unendlich vielen Arbeitsgruppen auch über Antimilitarismus gesprochen, über das Patriarchat, über Migration und eine Erde ohne Grenzen. ›Eine andere Welt ist möglich‹ war ein weiterer Slogan und – genau das wollten die Globalisierungsgegner in Genua aufzeigen«.
»In Genua haben wir gegen Rassismus demonstriert und gegen die fest verschlossenen Grenzen der Festung Europa, die wir abgelehnt haben«, erinnert sich die Aktivistin Annamaria Rivera. »Und auch gegen das sogenannte Anti-Migrations-Sicherheitsprogramm, das die neue Berlusconi-Regierung, die im Mai 2001 angetreten war, schon vorbereitet hatte und das dann leider 2002 auch umgesetzt wurde.« Sie erinnert an die große Demo der Migranten, mit der das »Gegen-Gipfeltreffen« eröffnet wurde: »Wir waren viel mehr Menschen als erwartet, über 50 000, und alles war friedlich und bunt! Unter anderem haben wir eine Reform des Gesetzes zur Staatsbürgerschaft gefordert und auch, dass die Gemeinden – und nicht die Polizei – über das Bleiberecht der Migranten entscheiden sollten. Diese Themen sind heute noch genauso aktuell wie damals.« Stefano Galieni schätzt ein: »Die tausend verschiedenen Ansätze von damals, dieser enorme kulturelle, intellektuelle, künstlerische und soziale Reichtum hat sich in unendlich viele unterschiedliche Bäche aufgeteilt und ist so aus der dominanten Erinnerung verschwunden.«
Der zweite »blinde Fleck« betrifft die Repression. Die ganze Gewalt, die Grausamkeiten der sogenannten Ordnungskräfte, die alle bestens dokumentiert sind, sind vor den Gerichten nur sehr unvollständig zur Sprache gekommen. »Seit jenen Gewalttaten sind 20 Jahre vergangen, aber die Idee, dass Rache und Folter polizeiliche Mittel sind, ist die gleiche geblieben«, analysiert der Verfassungsrechtler Giovanni Russo Spena. »Die Repression von Genua zeigte ein wichtiges Gesicht der bürgerlichen Macht. Gegen eine Bewegung, die sich globalisierte, die die Welthandelsorganisation, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank in Frage gestellt hat, wurde auch die ›autoritäre Demokratie‹ globalisiert. Es gibt eine enge Verbindung zwischen dem Aufstieg des Neoliberalismus und einer immer gewalttätigeren Sicherheitspolitik.«
Tatsache ist, dass für die Gewalttaten von damals in Italien letztlich kaum jemand zur Verantwortung gezogen wurde. Mario Placanica, der 21-jährige Carabiniere, der Carlo Giuliani erschossen hat, wurde wegen »Notwehr« freigesprochen. Alle Verantwortlichen von damals wurden freigesprochen und viele sogar befördert. Ein Beispiel: Der damalige Polizeipräsident Gianni De Gennaro wurde wegen des Gemetzels in der Schule »Diaz« angeklagt aber 2008 freigesprochen. Seiner Karriere tat das Ganze überhaupt keinen Abbruch. Schon 2007, also noch vor dem Freispruch, wird er Büroleiter des Innenministers, danach Leiter der Informations- und Sicherheitsabteilung im Ministerium. 2012 wird er Staatssekretär und Geheimdienstchef in der Regierung des ehemaligen EU-Kommissars Mario Monti. Ein Jahr später wird er Chef der größten Waffenfabrik Italiens, Leonardo, die weltweit Geschäfte macht. Ab 2013 ist er außerdem auch Vorsitzender der mächtigen Organisation für Amerika-Studien.
Für das, was 2001 in Genua geschah, gibt es also – zumindest juristisch – keine Verantwortlichen, obwohl auch der Europäische Gerichtshof Italien verurteilte, weil während des G8-Gipfels »die Menschenrechte und die Demokratie außer Kraft gesetzt wurden. Italien ist der Folter schuldig und die höchsten Institutionen des Landes haben dafür gesorgt, dass die Verantwortlichen straffrei ausgingen«, heißt es in dem Urteil.
Vollkommen ungeklärt bleibt auch die Frage nach dem Warum. Wer und warum hat entschieden, dass gerade während dieses G8-Gipfels in Genua die herrschende Klasse ihr böses Gesicht zeigen sollte?
»Die Frage ist falsch gestellt«, sagt Giacomo Dell’Omo, der gerade mal 20 Jahre alt war, als er am 20. Juli 2001 nach Genua fuhr, um an der großen Demonstration teilzunehmen und mit Quetschungen und Prellungen nach Rom zurückkehrte, die er den Schlagstöcken der Ordnungskräfte zu verdanken hatte. »Besser wäre die Frage: Warum nicht? In der italienischen Polizei hat es schon immer faschistoide Tendenzen gegeben. Und auch die üblen Machenschaften der Geheimdienste waren doch bekannt. In diesem militarisierten Klima konnten sie endlich zeigen, wozu sie fähig sind. Und es wurde auch klar, dass die Demokratie in Italien und auch in anderen europäischen Ländern alles andere als gefestigt ist. Wir haben alle gesehen, wie die Polizei in Genua den Schwarzen Block, der sogar versucht hat, das lokale Gefängnis zu stürmen, absolut ungeschoren ließ und stattdessen die Frauen, die Priester und die Journalisten verprügelte.«
Der Verfassungsrechtler Giovanni Russo Spena hat eine andere Erklärung: »Diese Bewegung hat aufgezeigt, dass eine andere, eine bessere Politik möglich ist. Und sie war wirklich international: der letzte große internationalistische Zyklus der Massenkämpfe. Und das schien bedrohlich.«
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