- Politik
- Polizeigewalt
Schläge ins Gesicht
In Göttingen kam es zu einer brutalen Festnahme. Ein Augenzeuge widerspricht den Polizeiaussagen
Als der Augenzeuge (Name der Redaktion bekannt) am frühen Sonntagmorgen durch die Göttinger Fußgängerzone spaziert, nimmt er in einiger Entfernung ein Wortgefecht wahr. Vier Polizisten streiten mit einem Passanten, das Geschehen erscheint zunächst wenig aufgeregt. Doch der Augenzeuge berichtet: »Ich wollte weitergehen, aber dann habe ich gemerkt, dass etwas verkehrt läuft. Der junge Mann hatte sich umgedreht und war schon über vier Meter entfernt. Plötzlich trat einer der Polizisten hervor und beförderte den Mann mit einer Art Wurfgriff zu Boden.« Der Angriff sei aus dem Nichts gekommen, die Situation bereits deeskaliert gewesen. »Das war absolut unfair, ich hatte fast den Impuls dazwischenzugehen«, so der Augenzeuge.
Stattdessen machen er und ein weiterer Zeuge Videoaufnahmen, die dem »nd« vorliegen. Jeweils ist darauf zu sehen, wie die Festnahme bereits im Gange ist und der Betroffene von den Beamten zu Boden gedrückt wird. Zwei fixieren die Beine des Betroffenen am Boden, ein weiterer ist mit dessen Oberkörper zugange. Sie versuchen, erfolgreich den Betroffenen auf den Bauch zu drehen und dessen Arme auf dem Rücken zu sichern.
Während das Vorgehen dieser Beamten einigermaßen verhältnismäßig erscheint, wirft das Verhalten des vierten Polizisten, gut zu erkennen an seiner fehlenden Mund-Nasen-Maske, einige Fragen auf. Augenscheinlich kümmert er sich in erster Linie um den Kopf des Betroffenen, den er mit seinem Knie auf den Boden presst und mit zahlreichen Schlägen traktiert. Mindestens elfmal ist in den Videos zu sehen, wie seine behandschuhte Hand zielgerichtet im Gesicht des Betroffenen landet und dies angesichts einer deutlich größer werdenden Blutlache offenbar zu schmerzhaften Verletzungen führt.
Der Betroffene wehrt sich nach Kräften und wirkt schockiert über die Brutalität der Festnahme. »Was mache ich?«, ruft er mehrmals, bevor er in ein hysterisches Lachen verfällt. Auch der Augenzeuge fragt die Beamten: »Was soll das?« Zur Geschichte gehört auch, dass der Betroffene die Polizisten während der Festnahme mehrfach aufs Übelste beschimpft und durchaus aggressiv wirkt. Auch im Vorfeld der Aufnahmen soll er bereits Beleidigungen ausgestoßen haben.
Ein Video der Festnahme machte im Laufe des Sonntags in den sozialen Medien die Runde. Während einige die Polizeibeamten in Schutz nahmen oder gar Freude zeigten über das harte Vorgehen, wurden auch kritische Stimmen laut. Timon Dzenius, Bundesvorstand der Grünen Jugend aus Hannover, schrieb auf Twitter etwa über die »krasse Polizeigewalt«. Der »Arbeitskreis kritischer Jurist*innen« an der Universität Göttingen warf der örtlichen Polizei vor, sich »herauszureden«.
Tatsächlich ist es problematisch, dass zum Geschehen vor den Videoaufnahmen bisher einzig die Verlautbarungen der Polizei öffentlich bekannt sind. Diese erklärte in einer Pressemitteilung am Sonntagnachmittag, der Betroffene habe die Beamten bereits zuvor durch »verbal aggressives Verhalten« provoziert und schließlich einen Streifenwagen an der Weiterfahrt gehindert. Als die Beamten daraufhin seine Personalien feststellen wollten, sei er »in bedrohlicher Körperhaltung auf die Beamten« zugegangen. Beim Versuch, den Betroffenen zu überwältigen, seien alle Beteiligten zu Boden gefallen. Der Betroffene habe »mutmaßlich unter Alkoholeinfluss« gestanden.
Am Montag ergänzte die Polizei in einer weiteren Mitteilung, dass die Aufnahmen einer von den Beamten getragenen sogenannten Bodycam einen vorausgegangenen Angriff des Betroffenen zeigen würden. Ihn erwarte nun ein Ermittlungsverfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte, Beleidigung und, weil er ein Messer mit sich geführt habe, wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Gegen den Polizeibeamten werde von der Polizeidirektion Hildesheim wegen des Verdachts auf Körperverletzung im Amt ermittelt. Ein Beamter soll bei dem Vorfall ebenfalls verletzt worden und aktuell dienstunfähig sein. Die Göttinger Polizeipräsidentin sagte, dass sie weiterhin »großes Vertrauen« in ihre Kollegen habe.
Wie viel Glauben man den Schilderungen der Polizei angesichts des nun ebenfalls vorliegenden Augenzeugenberichts, der eine deutlich andere Sprache spricht, schenken will, erscheint fraglich. Zumindest die Bewertung der Videoaufnahmen wirft davon unabhängig kein gutes Licht auf die Göttinger Polizei. Ungeachtet der Vorgeschichte erscheint es kaum zu rechtfertigen, dass ein bereits am Boden fixierter Mann mehrmals und gezielt ins Gesicht geschlagen wird. Schwer nachzuvollziehen ist es angesichts der brutalen Bilder, dass der Polizeirechtler Markus Thiel das Vorgehen im »Göttinger Tageblatt« als »eher noch verhältnismäßig« bezeichnete. Eher möchte man sich seinem Kollegen, dem Professor für Polizeiwissenschaften, Rafael Behr, anschließen: Dieser plädierte ebenfalls im »Göttinger Tageblatt« für eine unabhängige Stelle, die zukünftig solche Fälle von Polizeigewalt untersuchen könnte.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!