- Politik
- Frankreich
»Gesichtskontrolle« den Kampf angesagt
NGO in Frankreich verklagen Staat wegen Polizeiwillkür
Sechs Menschenrechtsorganisationen haben am Mittwoch vor Frankreichs oberstem Verwaltungsgericht den Staat verklagt, die Praxis der willkürlichen Polizeikontrollen von Jugendlichen nach Hautfarbe und ethnischer Herkunft zu beenden. Gemäß dem Verfahren zur Suche nach einer außergerichtlichen Einigung haben die Organisationen - darunter Amnesty International und Human Rights Watch - im Frühjahr Premierminister Jean Castex, Innenminister Gérard Darmanin und Justizminister Eric Dupond-Moretti aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um diese »stigmatisierende, erniedrigende und entwürdigende Praxis der Ordnungskräfte« endlich abzuschaffen. Sollten sie innerhalb von vier Monaten keine zufriedenstellende Antwort bekommen, wollten sie mit einer Gruppenklage vor Gericht ziehen. Das ist jetzt geschehen. Die Kläger sind entschlossen, durch alle Instanzen und notfalls bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu gehen.
Im vergangenen Dezember hatte Präsident Emmanuel Macron nach einer Serie rassistischer Übergriffe der Polizei erklärt: »Heute ist es so: Wenn man eine Hautfarbe hat, die nicht weiß ist, wird man viel häufiger kontrolliert. Man wird von vornherein als Quelle von Problemen angesehen. Das ist unerträglich.« Diese Worte hatten bei den Menschenrechtsorganisationen die Hoffnung geweckt, dass der Präsident eingreifen wird. Doch sie sollten sich getäuscht haben. Die fast durchweg rechts bis rechtsextrem ausgerichteten Polizeigewerkschaften konnten sich beim Innenminister, der für sie immer ein offenes Ohr hat, mit ihrer Sichtweise durchsetzen, dass es sich bei den Protesten gegen Gewalt und Rassismus in der Polizei um ein von linken Kräften geschürtes »öffentliches Kesseltreiben« handele. Entsprechend hat sich an den Vorschriften und an der Praxis der »Gesichtskontrollen« nichts geändert.
Wiederholt gab es, wenn diskriminierte Jugendliche mit Unterstützung von Anwälten der Menschenrechtsorganisationen vor Gericht gegangen sind, Urteile, die diese Art der Personenkontrollen als unvereinbar mit den Grundrechten der Bürger werteten und eine Änderung der Vorschriften und Praktiken forderten. In diesen Verfahren wurde von den Klägern nachgewiesen und von den Richtern anerkannt, dass die Polizisten mit ihren willkürlichen Kontrollen die Jugendlichen ausländischer Herkunft, die sie pauschal als potenzielle Kriminelle ansehen, einschüchtern und verunsichern wollen.
Das deckt sich mit den Ergebnissen der Untersuchungen von Soziologen, wonach Jugendliche, die ihrem Aussehen nach arabischer oder afrikanischer Herkunft sind, 20-mal größere Wahrscheinlichkeit haben, von der Polizei willkürlich kontrolliert zu werden als ihre weißen Altersgenossen. Eine vor Jahren eingeführte »Kontrollbescheinigung«, die Jugendliche nötigenfalls vorweisen konnten, um weitere Personenkontrollen am selben Tag zu vermeiden, wurde in der Polizeipraxis unterlaufen und ist längst in Vergessenheit geraten. Es ist weiterhin Alltag, dass farbige Jugendliche bis zu einem Dutzend Mal am selben Tag kontrolliert werden. Doch statt diese dadurch einzuschüchtern, erreichen die Polizisten das Gegenteil. Der Hass gegen alle Uniformträger wächst und trifft selbst Feuerwehrleute, die oft Schwierigkeiten haben, in »Problemvierteln« der Vorstädte einen Brand zu löschen. Für die Polizei sind solche Viertel nur zu oft Gegenden, um die sie lieber einen Bogen machen, um offenen Konfrontationen zu entgehen.
»Es geht uns nicht darum, alle Polizisten als Rassisten abzustempeln, sondern ein System zu beenden, das zwangsläufig zu Diskriminierung führt«, sagt Salah Amokrane von der Vereinigung Takticollectif, der die Aktion der sechs NGO koordiniert. »Neu an unserer Initiative ist, dass wir uns dabei über Klagen zu Einzelfällen hinaus direkt an den Staat als Verantwortlichen für dieses System wenden, das zu ›Gesichtskontrollen‹ führt. Frankreich ist das einzige Land Europas, wo die Polizei Personenkontrollen durchführen kann, ohne einen Grund dafür zu haben und sich dafür rechtfertigen zu müssen. Das darf so nicht bleiben. Das ist der ›Heimat der Menschenrechte‹ unwürdig.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.