Der Selbstausquetscher

Jason Osborne liebt die Erschöpfung, sie brachte ihm Silber. Jetzt steigt er aus dem Ruderboot aufs Rad

  • Michael Wilkening, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Während sein Partner im Boot, Jonathan Rommelmann, unmittelbar nach der Zieldurchfahrt den Gegnern aus Irland gratulierte, indem er ihnen den erhobenen Daumen entgegenstreckte, versank Jason Osborne in seine eigene Welt. Der deutsche Ruderer ließ sich nach hinten fallen, schloss die Augen und versuchte, die nahende Ohnmacht abzuwenden. Schlag für Schlag hatte der 26-Jährige zuvor alles aus sich herausgepresst, einige Momente lang war keine Energie mehr in seinem Körper. Doch Osborne liebt diese Augenblicke, er giert geradezu nach ihnen. Der Zustand der vollkommenen Erschöpfung löst in ihm ein Glücksgefühl aus - und deshalb sucht er ihn auf vielen verschiedenen Wegen.

Im Hafen von Tokio lohnten sich die Qualen, denn etwa eine halbe Stunde später hängten sich Rommelmann und Osborne gegenseitig eine olympische Silbermedaille um den Hals. Im Leichtgewichts-Doppelzweier hatten sie sich mit den favorisierten Iren etwa 1700 Meter lang ein Bug-an-Bug-Rennen geliefert, nach 1200 Metern noch geführt, im Schlussspurt aber keine Chance mehr. »Wir wollten ihnen einen großen Kampf liefern, und das haben wir geschafft«, sagte Rommelmann. Das deutsche Duo war nach dem Rennen mit sich im Reinen. »Da kann man nur zufrieden sein, mit einer Silbermedaille bei Olympia«, sagte Rommelmann und blickte auf das glänzende Edelmetall.

Sein Partner, der direkt neben ihm stand, fühlte ebenso - und hatte zudem ein bisschen Abschiedsschmerz. Für Osborne bedeutet das olympische Finale eine Zäsur, denn er plant einen Umstieg. Es soll für ihn weiterhin darum gehen, die eigenen körperlichen Grenzbereiche auszuloten, aber das Sportgerät wird künftig ein anderes sein. Der 26-jährige Mainzer strebt den Wechsel ins Profilager als Straßenradfahrer an. Mit dem Weltmeistertitel im eCycling im vergangenen Dezember hat er sich dafür interessant gemacht. »Radfahren ist für die Kondition, Rudern ist für die Technik«, sagte Osborne. Auf der Onlineplattform »Zwift« quält er sich im Training und misst sich zugleich bei virtuell ausgetragenen Rennen mit Konkurrenten aus aller Welt. Mehr als 80 000 Nutzer der Plattform gibt es allein in Deutschland, mehr als zwei Millionen weltweit.

Gemeinsam mit dem Weltradsportverband UCI richteten die Betreiber im Winter erstmals eine Weltmeisterschaft aus, bei den Männern waren unter anderem die Weltklasse-Straßenfahrer Victor Campenaerts (Belgien), Kletterspezialist Rigoberto Uran (Kolumbien) oder Cross-Spezialist Eli Iserbyt (Belgien) mit am Start. Osborne, der 2018 Weltmeister im Leichtgewichtseiner bei den Ruderern geworden war, stach die komplette Konkurrenz aus und sicherte sich den ersten WM-Titel in der modernen Sportart, die wegen der Corona-Pandemie weltweit großen Zulauf erhalten hatte.

In der nahen Zukunft hofft er auf einen Vertrag bei einem Profi-Radrennstall. Kontakte wurden bereits geknüpft, Gespräche geführt. »Ich möchte gucken, was für mich im Radsport so geht«, sagt Osborne. Es ist wahrscheinlich, dass er sich längst mit einem Rennstall einig geworden ist, vor dem 1. August dürfen Verträge fürs kommende Jahr jedoch noch nicht öffentlich gemacht werden. »Im Hintergrund habe ich gute Leute, die gute Arbeit für mich gemacht haben«, verriet er nur.

Osborne strebt weiter, möchte in einer anderen Disziplin in Grenzbereiche vorstoßen. Den maximalen Erschöpfungszustand in einem Ruderboot kennt der Mainzer ja schon. Sein Antrieb besteht darin, den eigenen Erfahrungsschatz zu erweitern. Und mit 26 scheint er auch noch nicht zu alt für einen solchen Wechsel des Sportgeräts zu sein. Er ist getrieben von der Suche nach der nächsten Herausforderung, er liebt den Wettbewerb mit Konkurrenten, aber er liebt auch den Wettkampf gegen sich selbst.

Für immer muss der Abschied von der Regattastrecke nicht sein. Osborne hält sich bewusst eine Tür offen. »Ich schließe nicht aus, dass ich in Paris 2024 beim Rudern starte«, sagte er im Hafen von Tokio. Je nachdem wie gut der Wechsel funktioniert, kehrt er möglicherweise aber auch als Radsportler zu den Olympischen Spielen zurück, so genau weiß das niemand. Sicher ist nur, dass er auch dann wieder bereit sein wird, die letzte Energiereserve aus seinem Körper zu quetschen.

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