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Wackelnde Sicherheit
Mit steigenden Infektionszahlen schwindet das letzte Versprechen von Tokio 2020
Wer an diesen Tagen Japans höchsten Politikerinnen und Politikern zuhört, könnte denken, es gebe kaum Probleme. Schon zwei Tage nach der olympischen Eröffnungsfeier letzten Freitag trat Yuriko Koike, die Gouverneurin von Tokio, vor die Presse: »Die Spiele laufen sehr geschmeidig.« Der Premierminister Yoshihide Suga stimmte ihr zu: Man müsse sich keine großen Sorgen machen in Bezug auf das Infektionsgeschehen.
Doch ein Blick auf die olympischen Spielstätten - und die neuesten Infektionszahlen - lässt diesen Optimismus schnell wieder schwinden: Japan verzeichnete am Donnerstag mit 10 000 Neuinfektionen, angetrieben durch die aggressivere Deltavariante, den höchsten Tageswert in dieser Pandemie. Insgesamt zählt das Land nun rund 900 000 Infektions- und 15 000 Todesfälle. In mehreren Gegenden arbeiten die Krankenhäuser an der Kapazitätsgrenze. Dagegen sind sämtliche olympische Spielstätten in und um die japanische Hauptstadt leer: Nur die Sportler, Offizielle und Journalisten dürfen rein. Alle müssen Maske tragen.
Auch deswegen sind die seit einer Woche laufenden Olympischen Spiele von Tokio die wohl kontroversesten, die es je gegeben hat. Vor der Pandemie hatten die Organisatoren den Menschen viel versprochen: »Tokio 2020« sollte einen Wirtschaftsboom bringen, den Wiederaufbau der vor zehn Jahren in einer Natur- und Atomkatastrophe zerstörten Gebiete um Fukushima feiern und die Diversität im Land fördern.
Doch was nicht schon vor der Covid-19-Pandemie eine kühne Ankündigung war, wurde mit der Pandemie völlig unrealistisch. Die Spiele kosten ein Vielfaches des einst Geplanten und bringen durch diverse Sicherheitsmaßnahmen weniger Geld ein. Der Wiederaufbau im Nordosten des Landes stockt. Und durch das Ausbleiben von internationalem Austausch im Rahmen dieser Wettkämpfe steht auch die Diversität kaum mehr im Mittelpunkt. Da die Organisatoren »Tokio 2020« dennoch - entgegen dem Willen der Mehrheit im Land - durchführen wollten, haben sie über die letzten Monate nur noch eine Sache versprochen: »Die Sicherheit hat oberste Priorität«.
Hat sie das wirklich? Die Antwort auf diese Frage fällt unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt. »Mein Eindruck ist, dass es hier um Sicherheit geht und sonst um kaum etwas«, sagt Yash Daryanani, Schwimmtrainer der Delegation aus Suriname. Daryanani hat die Aufgabe, die täglichen PCR-Tests der Athleten und Offiziellen aus seinem Land einzusammeln, deren Verhalten zu überwachen und alles ans Organisationskomitee zu melden. Partystimmung, sagt der 39-jährige, komme im Olympischen Dorf keine auf. Im Gegenteil: »Vor ein paar Tagen wurden zwei Holländer positiv getestet. Wir wohnen im selben Gebäude.« Daryanani gehe jetzt kaum noch vor die Tür.
Dass die strengen Regeln hundertprozentig wirksam sind, lässt sich nicht behaupten. Auch im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen lagen die Neuinfektionen am Donnerstag mit 24 bei ihrem Höchstwert, insgesamt haben sich 193 Menschen im Olympia-Umfeld infiziert. Die Offiziellen sind davon nicht beeindruckt. Sie haben so etwas erwartet. Für die Quarantäne und Behandlung infizierter Olympiateilnehmer haben sie Hotels reserviert.
Der Virologe Brian McCloskey, der das Internationale Olympische Komitee (IOC) in Gesundheitsfragen berät, sagte kurz vor Beginn der Spiele: »Es wird Infektionen geben. Es kommt darauf an, dass sie sich nicht verbreiten oder nach außen getragen werden.« Doch nun steigen die Zahlen außerhalb der Olympiablase parallel. Shigeru Omi, der Vorsitzende der Anti-Corona-Taskforce der japanischen Regierung, warnte am Mittwoch vor einem baldigen Kollaps des Gesundheitssystems in Tokio. Zusätzlich zur Pandemie komme der heiße und schwüle Sommer, der vermehrt zu Hitzeschlägen führe.
Die Organisatoren sind darauf bedacht zu betonen, dass die Infektionen innerhalb und außerhalb der Olympiablase unabhängig voneinander sind. Die Grenzen seien dicht. Doch während von den Olympiaeinreisenden rund 80 Prozent vollständig geimpft sind, trifft dies nur auf rund ein Viertel der japanischen Bevölkerung zu. Und die parallele Infektionsentwicklung deutet darauf hin, dass die beiden Welten keineswegs völlig voneinander abgekoppelt sind. »Es gibt zwei Effekte«, sagt Haruka Sakamoto, Wissenschaftlerin für Gesundheitssysteme an der Universität Tokio. »Einer ist die direkte Übertragung von Personen innerhalb der Blase an jene außerhalb. Da sieht es so aus, als würde das bisher kaum passieren.«
Ebenso kritisch sei aber ein zweiter, indirekter Effekt: »Indem die Olympischen Spiele trotz allem stattfinden, wird den Menschen signalisiert, dass die Lage nicht ganz so schlimm ist. Das lädt zu nachlässigem Verhalten ein.« Da Infektionsfälle mit einigen Tagen Verzögerung dokumentiert werden, dürfte sich dieser indirekte Effekt einer negativen Signalwirkung über die kommenden Tage und Wochen in Zahlen niederschlagen. Auch andere Gesundheitsexperten haben davor gewarnt, dass die Olympischen Spiele die falsche Botschaft senden.
Von solchen Signalen gibt es mehrere seitens der Olympischen Spiele. Kurz vor ihrem Beginn erklärten die Organisatoren, dass Athleten, die in Kontakt mit einer infizierten Person waren, entgegen den Regeln außerhalb der Blase nicht in Quarantäne müssten. Nach einem negativen Test können sie weiterhin an Wettkämpfen teilnehmen. Mittlerweile ist diese Regelung auch auf positiv getestete Athleten ausgeweitet, sofern sie sich mindestens sechs Tage isoliert haben und dann negativ getestet wurden.
Das Argument der Regierung: Die Athleten seien schließlich nur für den Sport gekommen. Das klingt nicht so, als stünde die Sicherheit an oberster Stelle. Und vor allem nicht, als wollte man in einem Land, das sich derzeit in einer neuen Infektionswelle befindet, mit gutem Beispiel vorangehen.
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