»Meine Eltern haben nicht gelesen«

Nicole Bernard wurde bekannt als Flamenco-Tänzerin. Dann als Autorin für Kinderbücher. Ihr Lieblingscharakter ist Olga, die Ohrenqualle

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie sitzen hier am Gartentisch in Ahrenshoop und verkaufen Ihre Bücher, obwohl diese in etlichen Buchläden prominent platziert sind und mit ihrem schönen Blau sofort ins Auge springen.

Ich liebe es, hier zu sitzen. Es wirkt sowohl meditativ wie anregend. Ich komme mit den Leuten ganz zwanglos ins Gespräch. Und ich kann Kinder beobachten, die gern die Bücher anschauen wollen, und Eltern, die sagen: Du liest doch eh nicht.

Interview
Nicole Bernard, Endfünfzigerin, erzählt, wie sie zum Schreiben kam, obwohl sie Flamencotänzerin ist und 30 Jahre lang hauptberuflich getanzt hat. Seit 20 Jahren schreibt die gebürtige Bremerin Geschichten vom Meer; ihre Hauptfigur ist die »Kleine Seenadel«. Die Kinderbuchautorin lebt in Berlin und Ahrenshoop.

Wann schreiben Sie?

Ich schreibe nur in den frühen Morgenstunden. Um sechs Uhr fang ich an. Ich koche mir meinen Kaffee und gehe in mein Arbeitszimmer. Die morgendliche Stimmung lässt mich in meiner Fantasie reisen. Meine Kinder sind inzwischen aus dem Haus, und ich könnte schreiben, wann ich will. Aber energetisch ist früh mein Pulver noch da und nicht schon verschossen.

Wie muss man sich das vorstellen, die Fortentwicklung des nächsten Buches? Die Charaktere sind ja schon angelegt ...

Ich hatte mich zuerst auf die kleine Seenadel konzentriert. Sie ist ja die Heldin der Bücher und der Titel der ganzen Bilderbuchserie. Dann kamen die anderen Meeresmitbewohner. Das Besondere meiner Geschichten ist, dass es all die Fische, Muscheln, Algen tatsächlich in der Ostsee und in der Nordsee gibt. Ich habe das alles recherchiert und in Biologiebüchern nachgelesen. Ich wollte, dass die Kinder mit den Abenteuergeschichten ganz nebenbei lernen und so ganz selbstverständlich von einem Hornhecht oder einer Ohrenqualle erfahren. Im Übrigen werde ich immer wieder gefragt: »Gibt es schon eine neue Geschichte?« Es ist sogar ein bisschen Druck, der so entsteht.

Wen haben Sie denn außer der kleinen Seenadel selbst ins Herz geschlossen?

Olga, die Ohrenqualle. Sie ist ein bisschen schüchtern. Sie schlängelt sich immer ein bisschen durch und ist leise, aber auf ihre Art präsent. Und dann gibt es zum Beispiel Henry, den Hornhecht. Das ist so ein Angeberfisch. Hornhechte haben als einzige Fische leuchtend grüne Gräten. Henry Hornhecht weiß um seine »inneren« Werte. Es gibt die Charaktere für jeden Fisch, und die Kinder können das aus ihrer Erlebniswelt erkennen und übertragen. Die kleine Seenadel, die ich in einem Flohmarkt-Biologiebuch in Berlin fand, hat auch in der Natur einen freundlichen Charakter. Sie lächelt regelrecht und ist sehr neugierig.

Wann haben Sie von sich gewusst, dass es funktionieren kann, Kinderbücher zu schreiben?

Ich habe das nie gewusst, und ich hatte auch keinen Plan. Ich habe vor ungefähr 17 Jahren einfach angefangen. Inzwischen weiß ich, es gibt im Leben für alles die richtige Zeit und die richtigen Kontakte - und die Zeit war also reif. Da ich den Norden liebe und ursprünglich von der Nordsee komme und immer wieder fasziniert bin von den Gewässern, dem Strand, von Wind und Sturm, hatte ich das Bedürfnis, die Liebe zu dieser Umgebung weiterzugeben.

Wie passte das Schreiben in Ihre familiäre Situation?

Ich habe fünf Kinder. Meine älteste Tochter ist jetzt 35 und ausgezogen. Mein Jüngster ist 25. Josi war ungefähr fünf, als ich damit begann. Ich konnte ihnen noch die Bücher vorlesen. Oder mein Mann hat sie als Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen.

Sie verlegen Ihre Bücher selbst. Wie kam es dazu?

Irgendwann stand das erste Manuskript, und es hieß, einen Verlag zu finden. Ich hatte 50 Verlage angeschrieben und von den meisten keine Antwort bekommen. Daraufhin habe ich mich ins Auto gesetzt, bin zu den Buchmessen gefahren und konnte da tatsächlich mein Manuskript abgeben. Zwei Verlage haben positiv geantwortet. Als ich mein erstes Buch in der Hand hielt, war ich mächtig stolz und erfreut. Aber der Vertrieb lief schlecht, und obendrein erkrankte meine Verlegerin schwer. Sie übertrug mir die Rechte zurück und ich war wieder frei. 2009 gründete ich den Fischland-Verlag. Es sollte nichts mehr schiefgehen.

Wie lief es bisher?

Das erste Buch ist inzwischen in der achten Auflage. Es gab 70 Folgen im regionalen Radio. Außer den Bilderbüchern gibt es Kurzgeschichten für Schulkinder und inzwischen auch den ersten Kinderküstenkrimi, eine Detektivgeschichte von mir.

Der Schutz der Meere steht ja seit Jahren in der Debatte. Hat Ihnen das geholfen, Ihre Bücher zu verkaufen? War es vielleicht sogar thematisch kalkuliert?

Nein, ehrlicherweise gar nicht. Umwelt und Gewässerschutz und so weiter, was so hineinspielen könnte, hatte keine primäre Bedeutung, kommt aber in Passagen vor. Die Fische finden alte Reifen, einen verrosteten Kühlschrank auf dem Meeresboden. Aber explizit ist es nicht mein Thema.

Waren Sie selbst eine Muschelsammlerin?

Ja, natürlich. Ich habe das immer geliebt, wenn wir an die Nordsee fuhren mit meiner Familie. Besonders das Wattwandern war großartig.

Kommen Sie aus einer literarischen Familie?

Nein, gar nicht! Meine Eltern haben nicht gelesen. Ich habe mir mit elf Jahren ein Buch vom Taschenbuchverlag gekauft. Das war von Chaim Bermant »Tagebuch eines alten Mannes«. Ich habe es später noch einmal in einer gebundenen Ausgabe erworben.

In Ihrer Biografie ist nachzulesen, dass Sie verschiedene Ausbildungen angefangen hatten - Hotelfachfrau, Sozialpädagogin -, bevor Sie bei Ihrer eigentlichen Leidenschaft, dem Tanzen, blieben.

Ich war unstrukturiert, als ich jung war. Nach dem Abbruch der Ausbildungen habe ich gejobbt und mit 17 angefangen zu tanzen. Es zeigte sich schnell, dass Tanzen meine Neigung ist und auch meine Begabung darin liegt. Ich hab dann lange getanzt, eine Tanzschule geleitet, bin jahrelang auf der »MS Europa«, dem weltbesten Kreuzfahrtschiff, mit einem Solotanzprogramm mitgefahren. Ich habe über 1000 Bühnenauftritte hinter mir.

Wie kamen Sie zum Tanzen?

Wie alles in meinem Leben hat sich das so ergeben. Ich kam auf Initiative einer Freundin zu einer neu eröffneten Tanzschule in Delmenhorst, die kostenlos Kurse anbot. Nach 30 Minuten wusste ich: Das ist es. Ich habe jahrzehntelang täglich fünf bis sechs Stunden getanzt.

Was war es, das Sie nach 30 Minuten für den Flamenco einnahm?

Flamenco ist Kraft, Leidenschaft, Stolz, Aufrichtigkeit, Präsenz. Flamencotänzer sind sehr gerade. Sie verbiegen sich nicht. Der Tanz will nicht gefallen. Man versucht, so viel Persönlichkeit wie möglich nach außen zu bringen.

Sie stammen aus der Nähe von Bremen. Wie kamen Sie nach Berlin?

1993 wurde mir ein Engagement für die Hauptshow im »Chamäleon«, dem Varieté-Theater in den Hackeschen Höfen, angeboten. Ich war zu diesem Zeitpunkt geschieden, und eine Kinderfrau half mir, in den Abendstunden die Kinder zu betreuen. In den 90ern war das »Chamäleon« eine Adresse! Ich zog für das Engagement nach Friedrichshain in eine schöne Altbauwohnung mit Ofenheizung. Ich kam aus dem konservativen, aufgeräumten Bremen und wusste damals gar nicht, ob der Friedrichshain im Osten liegt, und auch nicht, wie man Briketts anzündet. Aber ich habe das schnell gelernt und mich sehr frei gefühlt. Zwei Jahre später habe ich meinen jetzigen Mann kennengelernt.

Sie haben auch unterrichtet?

Also ich habe getanzt und dann bald auch eine Tanzschule geleitet. Kinder habe ich nicht unterrichtet - ich hatte keine Lust auf übereifrige Mütter. Ich habe im Rahmen des Hochschulsports über zehn Jahre lang an der Humboldt-Universität und dann auch an der Freien Universität den Fachbereich Tanz aufgebaut.

Was muss man als Tanzlehrende mitbringen?

Empathie. Man muss Menschen lieben.

Kennen Sie die Verzweiflung, wenn Tänzer*innen immer neben dem Rhythmus herhüpfen?

Oh ja! Aber dann muss ich als Lehrende meinen Fokus ändern. Es geht dann nicht mehr um eine ästhetisch perfekte Leistung, sondern um den Menschen. Auch so ein Tänzer oder so eine Tänzerin möchte kraftvoll und schön sein, und man muss sie begleiten. Sich »Von der Raupe zum Schmetterling« zu wandeln, ist auch ihr Credo. Allerdings sind nicht alle für die Bühne bestimmt. Jeder kann aber ein Leben lang leidenschaftlich tanzen. Dazu muss man motivieren.

Das ist auch eines Ihrer Buchthemen: Jeder ist einzigartig und wichtig.

Es ist so ein Grundthema. Jeder ist wichtig, ist einzigartig und einmalig. Das Sich-frei-Machen von Wertzuschreibung ist mir als Lebensthema total wichtig. Ich wollte das auch immer meinen Kindern vermitteln, überhaupt Werte, die sich ja alle Eltern für ihre Kinder wünschen.

Und aktuell. Wie verläuft der Sommer?

Im Juni ist mein neues Buch »Die kleine Seenadel - Geschichten zur Guten Nacht« erschienen, mit einem Vorwort zu Ritualen für kleine Kinder. Dann gebe ich wie immer Erlebnislesungen. Es berührt mich immer wieder, wenn ein Saal mit 100 Besuchern gefüllt ist und sie singen alle die Lieder mit.

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