Bald Meldepflicht bei Missbrauchsverdacht?

Niedersachsens CDU-Chef fordert neue Regeln bei Schweigepflicht insbesondere von Kinderärzten

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon leicht verblasste blutunterlaufene Striemen entdeckt eine Ärztin auf dem Rücken eines siebenjährigen Jungen. Folgen einer Prügelei oder Misshandlung, Verdacht auf häusliche Gewalt? Bei einem neunjährigen Mädchen findet ein Arzt Anzeichen sexuellen Missbrauchs, auch das Verhalten der Schülerin deutet auf ein solches Geschehen hin. Zwei von vielen Fällen, die nach dem Griff zum Telefon, zum Informieren von Polizei und Jugendamt rufen, um den Geschundenen weiteres Leid zu ersparen. Doch die Mediziner könnten sich in einem Konflikt zwischen berufsethisch gebotenem Gesundheitsschutz der kleinen Patienten und ärztlicher Schweigepflicht sehen, die am Weitergeben der Erkenntnisse hindert.

Bernd Althusmann, Wirtschaftsminister und CDU-Landeschef in Niedersachsen, will das ändern. Er fordert eine Lockerung der Schweigepflicht. »Wir sollten die Auflagen im Bereich jener Pflicht um begründete Ausnahmen bei Verdacht auf Kindesmissbrauch erweitern«, sagte er gegenüber der Presse.

Solch ein Schritt, der eine Änderung im Heilberufsgesetz erfordern würde, könnte es Ärztinnen und Ärzten erlauben, sich untereinander über Missbrauchsfälle auszutauschen. Das würde auch verhindern, dass Eltern oder andere Erziehungsberechtigte, die zugleich Täter sind, mit ihren Opfern von Arzt zu Arzt ziehen, um so Missbrauchshandlungen und deren Folgen zu verschleiern.

Gestattet ist es Medizinern bereits, im Verdachtsfall den Rat von Fachleuten zu suchen, eventuell auch das Jugendamt, jedoch müssen die Angaben zu den Patientinnen und Patienten anonym bleiben. Organisationen, die sich dem Kinderschutz widmen, blicken skeptisch auf den Vorschlag Althusmanns. Sie befürchten, dass sich potenzielle Missbrauchsopfer angesichts einer gelockerten Schweigepflicht nicht mehr um ärztliche Hilfe bemühen, weil sie Angst haben, das Offenbarte könnte weitergegeben werden und somit das durchs Schweigegebot geschützte Vertrauensverhältnis nicht mehr gegeben sein.

Das gleiche Ziel wie Althusmann hat die CDU-FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen. Auch sie will die Schweigepflicht für Ärzte lockern, deren Diagnose bei Kindern und Jugendlichen zu einem Missbrauchsverdacht führe. Ein Gesetz dazu ist in Arbeit.
Die Initiativen in NRW und Niedersachsen gewinnen an Bedeutung vor dem Hintergrund von Zahlen, die das Statistische Bundesamt veröffentlicht hat. Sie besagen, dass Jugendämter in Deutschland 2020 bei fast 60 600 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt haben. Das waren rund 5000 Fälle oder neun Prozent mehr als 2019. Damit haben die Kindeswohlgefährdungen im »Corona-Jahr« den höchsten Stand seit 2012 erreicht, als die entsprechende Statistik eingeführt wurde.

Neben einer zunehmenden Sensibilisierung der Bevölkerung für den Kinderschutz, so das Bundesamt, könnten 2020 auch die Belastungen von Familien infolge der Lockdowns und Kontaktbeschränkungen ein Grund für die Zunahme gewesen sein. Auch sei nicht auszuschließen, dass ein Teil der Fälle, etwa aufgrund von vorübergehenden Schulschließungen, unentdeckt geblieben ist.

Die meisten der als gefährdet gemeldeten 60 600 Kinder wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 Prozent). Bei rund einem Drittel aller Fälle (34 Prozent) wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen gefunden – beispielsweise in Form von Demütigungen, Einschüchterungen, Isolierung und emotionaler Kälte. In etwas mehr als einem Viertel der Fälle (26 Prozent) gab es Indizien für körperliche Misshandlungen und in fünf Prozent der erfassten Fälle Anzeichen für sexuelle Gewalt.

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