• Politik
  • Abschiebungen nach Afghanistan

Entscheidung nur für den Einzelfall

Trotz sich verschlechternder Sicherheitslage im Land: Deutschland und Österreich wollen weiter nach Afghanistan abschieben

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 3 Min.

Angriffe auf die Provinzhauptstädte Laschkar Gah, Kandahar und Herat. Tausende Zivilisten auf der Flucht. Bis zum symbolträchtigen 11. September 2021, 20 Jahre den Anschlägen auf das World Trade Center, wollten die USA ursprünglich ihre Truppen vollständig aus Afghanistan abgezogen haben. Jetzt soll es sogar Ende August soweit sein. Auch Deutschland zieht seine Soldaten ab. Die Taliban nutzen ihre Chance und holen sich mit Gewalt die Macht zurück.

Mitten in dieses Szenario hinein wollen Deutschland und Österreich weiter afghanische Geflüchtete abschieben. Für den 3. August war Flüchtlingsorganisationen zufolge eine Massenabschiebung von München über Wien nach Kabul geplant. Auch Amin A. (Name von der Redaktion geändert) sollte am 3. August abgeschoben werden. Ein entsprechendes Schreiben vom österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl liegt »nd« vor. Dagegen legte A. mit Hilfe der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung mit Sitz in Wien Einspruch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein. Mit Erfolg: Noch am 2. August untersagte der EGMR per einstweiliger Verfügung die Abschiebung von A. vorläufig bis Ende August.

Die Entscheidung ist für Österreich bindend, wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums dem »nd« bestätigte. Er sagte allerdings auch, »dass die einstweilige Maßnahme des EGMR keine unmittelbaren Auswirkungen für den allgemeinen Vollzug von Außerlandesbringungen nach Afghanistan hat« - alle weiteren vorgesehenen Abschiebungen also durchgezogen werden könnten. Der Sprecher erklärte zudem auch auf wiederholte Nachfrage, für den 3. August sei gar »kein Abschiebflug nach Afghanistan vorgesehen« gewesen, weshalb - anders als in verschiedenen Medien dargestellt - ein solcher Flug auch nicht gestoppt worden sei. Das jedoch steht im Widerspruch zum vorliegenden Schreiben an Amin A.

Und noch etwas spricht dafür, dass der Flug geplant war: Auch Deutschland sagte einen Abschiebeflug an diesem Tag ab. Allerdings erklärte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums der dpa lediglich, dass ein ursprünglich für Dienstagabend geplanter Abschiebeflug von München nach Kabul aufgrund von Sicherheitsbedenken kurzfristig abgesagt wurde. Dort waren bei einem Anschlag auf das Haus des afghanischen Verteidigungsministers am Dienstagabend mindestens acht Menschen getötet worden.

Afghanistan hat die europäischen Staaten Mitte Juli aufgefordert, angesichts der Sicherheitslage vorerst bis Oktober niemanden in das Land abzuschieben. Finnland, Schweden und Norwegen halten sich daran.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezieht sich in seinem Schreiben sowohl auf die Entscheidung Afghanistans als auch auf die Sicherheitslage im Land. Die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung sieht die Entscheidung positiv - nicht nur für Amin A. Zum einen komme es nicht oft vor, dass der EGMR überhaupt kurzfristig Abschiebungen untersage, zum anderen habe er sich bisher mit Bedenken bezüglich der Sicherheitslage in Afghanistan zurückgehalten. Und zudem: »Es ist das erste Mal, dass wir erleben, dass der EGMR eine Entscheidung nicht wegen der individuellen Eigenschaften und Merkmale einer Person trifft, sondern bezogen auf die allgemeine Sicherheitslage im Herkunftsland«, sagt eine*e Mitarbeiter*in dem »nd«. Darauf könnten sich nun auch andere Menschen beziehen, die ausgewiesen werden sollen. Sie sei zudem zuversichtlich, dass der EGMR seine Entscheidung auch über den 31. August hinaus verlängern werde.

Ein Sprecher des deutschen Bundesinnenministeriums sagte am Dienstag, dass der Gerichtshof in einem »Einzelfall« in Österreich entschieden habe, weshalb sich der Beschluss nicht auf deutsche Verfahren auswirke. »Es gibt keine allgemeingültige Entscheidung, die für ganz Europa gilt.« Der ursprünglich für Dienstagabend geplante Flug solle möglichst bald nachgeholt werden.

Pro Asyl warf der Bundesregierung vor, ihre Pläne für Abschiebungen nach Afghanistan rücksichtslos voranzutreiben.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.