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Jüdische Organisation warnt vor Q-Anon
American Jewish Committee veröffentlichte Studie zu Verschwörungstheorien in der Corona-Pandemie
Eine weltweit agierende, satanistische Elite entführt Kinder, hält sie gefangen, foltert sie und ermordet sie anschließend, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsserum zu gewinnen. Der einzige, der gegen diese umfassende Ungerechtigkeit ankämpft, ist der ehemalige US-Präsident Donald Trump. Ist diese vollkommen absurd klingende Verschwörungserzählung nur eine Spinnerei abgedrifteter Rechter – oder steckt hinter der Verbreitung des »Q-Anon«-Mythos nicht doch eine größere und ganz reale Gefahr?
Das American Jewish Committee Berlin (AJC) warnt vehement davor, solche Verschwörungserzählungen zu verharmlosen. Die Attentäter von Halle und Hanau wie auch der Mörder des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke hätten ebenfalls Verschwörungsmythen angehangen, sagte der Direktor des AJC Berlin, Remko Leemhuis, am Montag in Berlin. »Wir können nur eindringlich davor warnen, dieses Milieu zu unterschätzen und Verschwörungsideologien zu belächeln«, so Leemhuis. Alarmierend sei für ihn diesbezüglich, dass eine nicht zu unterschätzende Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den »Querdenker«-Demonstrationen aus dem bürgerlichen Spektrum komme. Diese würden sich an dem offensichtlichen Antisemitismus, der dort als Bestandteil von Verschwörungsideologien verbreitet werde, nicht stören oder diesen sogar teilen.
Am Montag hatte das AJC im Rahmen einer Pressekonferenz mit Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) und dem Bundestagsabgeordneten Benjamin Strasser (FDP) eine Untersuchung mit dem Titel »Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie« vorgestellt. Im Auftrag des AJC analysierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) vor allem am Beispiel der Q-Anon-Bewegung, wie sich Antisemitismus heute ausdrückt. Gerade der Mythos über die satanistische Elite, die nach Kinderblut strebe, sei in Deutschland im Zuge der Pandemie besonders populär geworden, erklärte Studien-Co-Autor Daniel Poensgen. Die Anhängerschaft relevanter Q-Anon-Kanäle in sozialen Medien habe sich mit Beginn der staatlichen Infektionsschutz-Maßnahmen in kurzer Zeit mehr als verfünffacht. Poensgen verortet die Zahl der Unterstützer hierzulande im niedrigen sechsstelligen Bereich.
Dabei sei Q-Anon laut dem Experten auch ein Beispiel dafür, wie sich antisemitische Ideen im Zeitalter der sozialen Medien über Ländergrenzen hinweg verbreiten. Dies unterstreiche, dass die Bekämpfung des Antisemitismus ebenso grenzüberschreitend geschehen müsse. Q-Anon ist hauptsächlich in den USA verbreitet, selbst einige republikanische Politiker stehen der Verschwörungsideologie nahe. In Deutschland habe die Erzählung schnell an bereits bestehende antisemitische Einstellungen und Ideologiefragmente, wie die von Neonazis oder der Reichsbürgerszene, anschließen können. Als zentrale Erkenntnis der Studie gilt, dass Verschwörungserzählungen in der Regel mit Antisemitismus verbunden sind.
Historisch seien Krisen stets von einer Zunahme des Antisemitismus begleitet gewesen, erläuterte dabei das AJC auf der Präsentation. Es sei daher keineswegs überraschend, dass dies auch während der Corona-Pandemie beobachtet werden konnte. Die Zahl antisemitischer Straftaten habe im vergangenen Jahr mit 2351 Vorfällen den höchsten Stand seit dem Beginn der Erfassung im Jahr 2001 gehabt. Rias habe zudem von März 2020 bis März 2021 insgesamt 561 antisemitische Vorfälle mit Bezug zur Coronapandemie erfasst. Hierunter waren 324 Versammlungen, bei denen antisemitische Äußerungen festgestellt wurden.
»Antisemitische Verschwörungsmythen erlebten in Zeiten der Coronapandemie eine starke Konjunktur«, betonte Poensgen. Vorstellungen von einer geheimen Einflussnahme der Juden auf Politik, Medien und Wirtschaft seien jedoch nicht nur im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung, sondern auch jenseits davon artikuliert und von Juden in ganz alltäglichen Situationen wahrgenommen worden.
Die Bundestagsabgeordnete Petra Pau forderte gesellschaftliche Achtsamkeit und auch Intervention. »Es bedarf der breiteren Aufklärung über die Mechanismen zur Verbreitung von Verschwörungsmythen und über die Gefahren, welche von ihnen für die Demokratie ausgehen«, sagte die Politikerin. Alle müssten dazu die Perspektive der Betroffenen viel stärker in den Blick nehmen. Dazu gehöre auch, dass die Zivilgesellschaft nicht wegschaue, sondern den Verfassungsschutz »im Wortsinne in die eigenen Hände« nehme. »Die vorliegende Studie gehört genauso in die Aus- und Weiterbildung von Polizei und Justiz wie auch von Pädagogen«, fügte Pau hinzu.
Auch Benjamin Strasser, Bundestagsabgeordneter der FDP, sieht dringenden Handlungsbedarf. »Nicht erst seit den Corona-Protesten ist klar: Wo Verschwörungserzählungen verbreitet werden, ist meist Antisemitismus nicht weit.« Dagegen müsse nun jeder aktiv werden.
Mit dem Rückgang der Infektionszahlen im Frühjahr und dem Ende der Amtszeit Donald Trumps im Januar scheinen sich die Gefahren, die von antisemitischen Verschwörungsmythen und ihren Anhängern ausgehen, erst einmal abzuschwächen, resümiert die Rias-Studie. Dennoch zeige insbesondere das erste Jahr der Coronapandemie, welches »gefährliche Potenzial« verschwörungsideologisches Denken auch in Deutschland habe und wie schnell aus Internetphänomenen wie dem Q-Anon-Mythos regelrechte Bewegungen entstehen könnten.
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