Vormund der Sachsen

Zum Tod des CDU-Politikers und früheren Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf

In der Vorstellung von Kurt Biedenkopf war Sachsen wohl so etwas wie die beste aller Welten. Zumindest so lange, wie er das Land als Ministerpräsident regierte. Der Mann, der 1990 aus Nordrhein-Westfalen in die Region im Südosten der untergehenden DDR kam, wurde dort wie ein Heilsbringer gefeiert – eine Rolle, in der er sich sichtlich gefiel.
Es war die zweite Karriere eines Politikers, der eigentlich von der westdeutschen Machtmaschine schon ausgespuckt worden war. Biedenkopf, ein brillanter Denker, hatte Jura und Ökonomie studiert, wurde mit 37 jüngster Uni-Rektor der Bundesrepublik an der Ruhr-Universität Bochum, arbeitete hoch dotiert in der Industrie.

Auch in seiner Partei, der CDU, ging es steil nach oben: 1973 holte der neue starke Mann der Union, Helmut Kohl, ihn als Generalsekretär in die Parteispitze. Bald erwarb er sich den Ruf als Querdenker – als dieser Begriff noch nicht so unangenehm besetzt war wie heute, sondern im Gegenteil als eine Art intellektueller Adelstitel galt. Das ging nicht lange gut – neben dem späteren Dauerkanzler war kein Platz für eigenständige Gedanken, Modernisierungsdebatten oder gar Widerspruch. Vier Jahre später wurde Biedenkopf abserviert, wie später auch Heiner Geißler.

Seine landespolitischen Bemühungen in Nordrhein-Westfalen blieben weitgehend erfolglos; die SPD war dort in den 80ern noch unbesiegbar. Ein Versuch Ende der 80er Jahre, Helmut Kohl von der Parteispitze zu verdrängen, an dem sich Biedenkopf beteiligte, scheiterte kläglich an der machtgepanzerten Wucht des Kanzlers. Seitdem war Biedenkopf ein politisches Auslaufmodell.

Doch dann kam die Wende. Dem Umbruch im Osten hatte nicht nur der Rivale Kohl einen unverhofften Höhenflug zu verdanken, sondern auch Kurt Biedenkopf. Parteifreunde überredeten ihn, nach Sachsen zu gehen. Er gehörte zu den vielen Westdeutschen, die Anfang der 90er in den Osten kamen, um die Dinge in die Hand zu nehmen – und damit eigenständige ostdeutsche Entwicklungen blockierten. Er gehörte andererseits zu den wenigen Westdeutschen, die den Einheimischen zumindest das Gefühl vermittelten, dass ihnen zugehört wird.

Doch daraus entstand eben keine lebendige gesellschaftliche Debatte, keine größere Beteiligung der Bürger an der Regelung ihrer Angelegenheiten. Die Sachsen bekamen, was viele von ihnen auch wollten: einen Regierungschef, der sich als wohltätiger Landesvater inszenierte. Der ostdeutsche Bürgerrechtler Rolf Henrich beschrieb in seinem bekanntesten Buch die DDR als »vormundschaftlichen Staat«. Einigermaßen ähnlich war Biedenkopfs Attitüde: Sorgt euch nicht, ich mache das schon für euch.

Immerhin, auf diese Weise bescherte Biedenkopf der Sachsen-CDU dreimal in den 90er Jahren satte absolute Mehrheiten, was seinen von den Medien immer wieder reproduzierten und von ihm selbst gern akzeptierten Nimbus vom »König Kurt« festigte.

Aber wie es oft ist im Leben: Selbstüberhöhung macht blind für Realitäten. Einerseits setzte sich Biedenkopf mit seiner Erfahrung und seinem beziehungsreichen Netzwerk für neue Arbeitsplätze ein; andererseits blieb der Aufschwung oft beschränkt auf ein paar industrielle Leuchtturmprojekte. Einerseits gab er den jovialen, volkstümelnden Landesvater, andererseits hatten seine Amtsführung und die mediale Inszenierung seiner Ehefrau einen unübersehbaren Zug von Selbstherrlichkeit und Selbstgefälligkeit. Einerseits hätschelte er die Sachsen und ihr Selbstwertgefühl, andererseits übersah er die Stimmungen, die sich da zusammenbrauten – oder er redete sie klein. Den Sachsen billigte er beispielsweise zu, gegen Rechtsextremismus immun zu sein. Und das zu einer Zeit, als rassistische Äußerungen, Übergriffe und Gewalttaten auch in Sachsen längst zum Alltag gehörten.

Gut zehn Jahre währte seine Ära, bis ihn zu Beginn des neuen Jahrtausends Affären um kleinliche Vorteilsnahmen, vor allem aber Differenzen in der CDU zu Fall brachten. Er musste erleben, wie die absolute Mehrheit seiner Sachsen-Staatspartei bröckelte und dauerhaft verloren ging und die Nazipartei NPD in den Landtag einzog.

Ob ihn das zum Nachdenken bewog, weiß man nicht genau; auch die AfD war für ihn zunächst interessant und belebend, bevor er später deutlichere Worte fand. Pegida nannte er ungefährlich. Gewiss kann sich eine einzelne Region nicht den großen politischen Entwicklungen und Verwerfungen entziehen. Dass aber Sachsen zum Kernland der NPD, zu einer Hochburg der AfD und zum Schauplatz der Pegida-Bewegung wurde, hat seine Wurzeln auch in der Wirklichkeitsverdrängung, die Biedenkopf betrieb. Das gehört zum bitteren Teil des Lebensbilanz dieses Politikers, der am Donnerstag im Alter von 91 Jahren starb.

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