Werbung

Keine Rettung vor dem Untergang

Vor 30 Jahren scheiterte in Moskau der Augustputsch zum Erhalt der Sowjetunion

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Linienflug von Berlin nach Moskau ist an diesem 19. August 1991 nur spärlich gebucht. Ein paar Journalisten der schreibenden Zunft, einige Fernsehteams. Die meisten von ihnen haben wie ich den Urlaub abgebrochen, reisen ins Ungewisse. Staatsstreich, Ausnahmezustand. Die Stimmung ist ernst. Niemand weiß, was ihn erwartet. Gorbatschow gestürzt? Panzer in der Hauptstadt? Proteste und Barrikaden? Bürgerkrieg und Blutvergießen?

Bei meinem Kurzbesuch in der Redaktion am Montagvormittag höre ich beim Eintritt in sein Zimmer unseren Chefredakteur Wolfgang Spickermann am Telefon versichern: »Ja, er fliegt gleich zurück.« Den Koffer fülle ich noch rasch mit weniger wichtigen Dingen. Schließlich geht es zurück in einen Mangel, der so gut wie alles entbehren ließ. So erscheint alles brauchbar und nötig, doch auch ein Totalverlust wäre zu verschmerzen. »Das kann ein halbes Jahr dauern«, sage ich beim Abschied von der Familie. »Aber vielleicht auch nur drei Tage.« Das nur zur Beruhigung.

Die Einreise im internationalen Flughafen Scheremetjewo 2 dauert ewig. Das läuft also wie gewohnt. Im Büro am Prospekt Mira funktionieren internationales Telefon und Fernschreiber. Bis in den Abend und zur verkündeten Ausgangssperre kurve ich durch die zugestaute Hauptstadt. Dienstag spreche ich gemeinsam mit anderen Moskauern recht entspannt mit Panzersoldaten am Roten Platz. Panzer auch vor dem Weißen Haus, Barrikaden und Demonstranten. Dort hat Russlands Präsident Boris Jelzin zum Widerstand gerufen.

Am Mittwoch werden Mitglieder des »GKTschP«, eines Staatskomitees für den Ausnahmezustand, verhaftet. »Aufständische« um Vizepräsident Gennadi Janajew und Premier Walentin Pawlow, die »starken« Minister Dmitri Jasow (Verteidigung), Wladimir Krjutschkow (KGB) und Boris Pugo (Inneres) erwiesen sich als das letzte Aufgebot gegen Gorbatschows Perestroika und Glasnost. Für die »Aufständischen« ist die Reformpolitik Schuld an der tiefen Krise der Sowjetunion. Die für den 20. August vorgesehene Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages unabhängiger Republiken, so fürchteten sie, hätte der Supermacht den Rest gegeben. Es bleibt ein Paradoxon, dass jene vergeblich versuchten die Macht zu ergreifen, die ohnehin alle Hebel in der Hand hatten.

Den Präsidentenberater und früheren Generalstabschef, Sowjetmarschall Sergej Achromejew, hatte ich vor nicht einmal Jahresfrist angesichts der Krise der Perestroika in seinem Arbeitszimmer im Kreml nach genau einer solchen Möglichkeit gefragt. Angesprochen auf Spekulationen um einen Militärputsch, reagierte der ansonsten zurückhaltende Militär ungehalten: »Ich habe es satt, darauf zu antworten. Seit fünf Jahren sage ich darauf immer das gleiche: Das ist in der Sowjetunion völlig ausgeschlossen.« Darüber würden nur jene sprechen, »denen unser sozialistischer Gesellschaftsaufbau nicht gefällt, die ihre eigenen politischen Interessen verfolgen, gezielt gegen die Staatsführung und die KPdSU.«

Erst Russlands Präsident macht dann aus einem halbherzigen Versuch ohne Konzept und Konsequenz den ganzen Putsch. Präsident und Generalsekretär Gorbatschow, der am 22. August nach Moskau zurückgekehrt ist, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Demütigend verkündet Jelzin ihm, dem Obersten Sowjet und der Welt das Verbot der Kommunistischen Partei in Russland. Der frühere Kandidat des Politbüros und einstige Parteichef von Swerdlowsk und Moskau erklärt als neuer starker Mann: »Kommunismus wird es bei uns nicht mehr geben und das Sowjetsystem ist demontiert.« Jelzin kündigt dann auch im Namen des Gründungsmitglieds Russland gemeinsam mit den Nachbarn Belarus und Ukraine die einst von Revolutionsführer Wladimir Lenin formierte Union auf.

Was als »Erneuerung« und »Neues Denken« begonnen hatte, endet im Untergang der roten Supermacht. Das hätten nicht einmal die Deutschen im Zweiten Weltkrieg oder die USA im Kalten Krieg vollbracht, klagen damals nicht nur Veteranen der Sowjetarmee. Das rote Banner, das sieben Jahrzehnte über dem Kreml wehte, wird zum Jahresende eingeholt.

Nur knapp sechs Jahre zuvor hatte Michail Gorbatschow als Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 11. März 1985 die Schalthebel der Macht eines Generalsekretärs in die Hände bekommen. Er war mit seinen 54 Jahren nicht nur viel jünger, sondern auch gründlich anders als seine Vorgänger. Damals verbreiteten sich mehr als nur die russischen Worte Perestroika und Glasnost für Umgestaltung und Offenheit. Es verbreitete sich Hoffnung.

Doch schon der erste Anlauf des Bauernsohnes aus dem südrussischen Stawropol an die Spitze war erst einmal steckengeblieben. Als neuer Generalsekretär nach Leonid Breschnew hatte Juri Andropow 1982 eine Erneuerung des erstarrten Sowjetlandes angeschoben. Doch nach 18 Monaten sank es noch tiefer in jene Vergangenheit zurück, aus der es der frühere langjährige KGB-Chef reißen wollte. Sein rascher Tod, über dessen Umstände düstere Ahnungen und Legenden schweben, führte zum Rückschlag. Denn nicht der schon damals in den engsten Machtzirkel aufgerückte Gorbatschow, sondern der schwer kranke Konstantin Tschernenko wurde an die Spitze geschoben. Dort siechte er dahin und das Land mit ihm. Diese Entscheidung trug einen Virus des späteren Untergangs in sich.

Als der getaufte Marxist und studierte Jurist Gorbatschow beim zweiten Anlauf auf die Macht nicht mehr aufzuhalten war, lud er sich ein riesiges Bündel auf. Zu Beginn, urteilten die »Moskowskije Nowosti«, hatte Gorbatschow eher eine Erneuerung des Alten, denn etwas prinzipiell Neues im Sinn: »Dann hat er angefangen. Er zog an einem Faden - da tat sich ein Abgrund auf. Er zog an einem anderen Ende - da war bodenlose Leere.« Das so viel zitierte Wort vom Zuspätkommen und der Bestrafung durch das Leben trifft auf dessen Urheber zu. Der Super-GAU von Tschernobyl, Explosionen von Gasleitungen, Erdbeben und Schiffskatastrophen suchten das Sowjetreich und damit seinen Führer heim.

Gorbatschow brachte eine Missernte ein, die bereits lang vor seiner Zeit gesät worden war. Die administrative Kommandowirtschaft war nicht erst seine Idee. Der Vielvölkerstaat driftete nicht erst unter seiner Stabführung auseinander. Die Union zerrann nicht erst bei seinem Machtantritt zwischen den Fingern. Die auch in Osteuropa übermächtige Krise des praktizierten Modells des Sozialismus fand in Gorbatschows Politik ihren Anstoß. Die Öffnung von Archiven im Zuge von Glasnost öffnete den Blick auf die düstere, verbrecherische und mörderische Stalin'sche Geschichte. Schlimm waren aber nicht Offenbarung, Bestätigung oder neue Erkenntnis, schlimm waren das Verschweigen, Weglügen und eben Untaten wie das Morden von Katyn. Weil es statt um Erneuerung schon um die Existenz ging, wurde auch dies dem Generalsekretär als Schuld zugeschrieben. »Perestroika - höchstes und letztes Stadium des Sozialismus!«

Keine einmütige Haltung der Bürger Russlands kann im dritten Jahrzehnt nach den Ereignissen des Jahres 1991 das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada erkennen. Weder mit den Mitgliedern des Komitee für den Ausnahmezustand noch mit Jelzin und seinen Demokraten würde die Bevölkerung sympathisieren. Beide Seiten hätten unrecht gehabt. Eher von einer Tragödie als einem Putsch werde gesprochen, deutlicher von einer »Episode im Machtkampf« und fast gar nicht von »einem Sieg der demokratischen Revolution«. Der heiße August 1991 erweist sich in der Rückschau trotz aller Aufregung und Dramatik nur noch als letztes Nachhutgefecht.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.