Covid’s Anatomy

Über die Corona-Belegungspolitik auf den Intensivstationen kursieren Fake News. Dabei waren die Zustände schon vor der Pandemie kritikabel

  • Peter Hoffmann und Nadja Rakowitz
  • Lesedauer: 6 Min.

»Horrorzahlen gefälscht - der große Betrug mit den Intensivbetten«, titelte die »Bild«-Zeitung am 11. Juni 2021. Der Bundesrechnungshof habe »einen der größten Skandale der Coronakrise … enthüllt«. »Zahlreiche Kliniken« hätten die Zahlen der belegten Intensivbetten gefälscht, um Geld aus dem Rettungsschirm der Bundesregierung zu erhalten. Ein Faktencheck des Redaktionsnetzwerks Correctiv.org ergab: Der Bundesrechnungshof hatte lediglich kritisiert, dass die Regelungen für Corona-Ausgleichszahlungen an Kliniken einen finanziellen Anreiz böten, die Belegungszahlen der Intensivbetten für zu hoch anzugeben. In Presse und Netz wurde daraufhin spekuliert, ob die Situation auf den Intensivstationen dramatisiert worden sei, um Argumente für den - also womöglich unnötigen - Lockdown zu konstruieren. Da aber von keiner Seite Beweise beigebracht wurden, dass Kliniken tatsächlich betrogen hatten, wurden diese Regeln auch nicht geändert.

Keine Manipulationen

Davor hatte im Mai 2021 ein Autorenteam um den Medizinprofessor Matthias Schrappe - bis 2011 Mitglied des »Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens« - behauptet, die Kliniken hätten aus finanziellem Interesse Covid-Kranke unnötig intensivmedizinisch behandelt und die Fachgesellschaft DIVI hätte die Zahlen manipuliert. So sei die Belegung der Intensivstationen während der ersten Coronawelle künstlich hochgeschraubt und unbegründet die Panik geschürt worden, in Deutschland drohe ein ähnliches Chaos wie im italienischen Bergamo. Mehrere Fachgesellschaften und Berufsvereinigungen - nebenbei: auch der Autor dieses Artikels - reagierten empört.

Die anfängliche Unsicherheit von uns Ärzt*innen, welche Therapiestrategie die beste sei, die initiale Bemühung, durch frühzeitige Intubation und Beatmung eine krisenhafte Zustandsverschlechterung abzufangen, das Bestreben, uns selbst angesichts unzureichender Schutzausrüstung und ohne kausale Behandlungsmöglichkeit und Impfung zu schützen: All das war medizinisch und ethisch angemessen. Dennoch als willfährige Büttel skrupelloser Krankenhausbetriebswirte denunziert zu werden, die Patient*innen mechanisch beatmen, nur um Kasse fürs Krankenhaus zu machen, war schwer erträglich. Und als das Faktenfuchs-Rechercheteam des Bayerischen Rundfunks binnen einer Woche diese unwahren Behauptungen widerlegt hatte, waren diese längst viral gegangen und hatten die Öffentlichkeit verunsichert.

Mangel schon vor Covid-19

Erinnern wir uns aber noch einmal an den Anfang der Pandemie. Die Teams auf den Intensivstationen konnten im Frühjahr 2020 nicht wissen, was auf sie zukommen würde. Sie wussten aber, dass Deutschland über bevölkerungsbezogen dreimal so viele Intensivbetten wie Italien verfügte. Das hat zum einen historische Gründe, zum anderen war im Zuge der Ökonomisierung, Kommerzialisierung und Privatisierung des Krankenhaussektors zwar vieles Notwendige gestrichen, die Intensivkapazitäten waren jedoch ausgebaut worden - als Bestandteil einer im deutschen »DRG-Fallpauschalensystem« lukrativen hochinvasiven Medizin.

Trotzdem genügten die Intensivbetten schon vor der Corona-Pandemie meist nur knapp, um alle Notfallpatient*innen sowie diejenigen mit großen operativen Eingriffen zu versorgen. Hier kamen dann die schwer an Covid-19 Erkrankten noch hinzu. Also wurden planbare Wahleingriffe im Jahr 2020 auf unbestimmte Zeit verschoben und im »Hauruckverfahren« eine Notfallreserve an Intensivbehandlungsplätzen mit 50 000 Euro Förderung pro Platz aufgebaut - Gesamtkosten: 686 Millionen Euro. Diese Entscheidung traf in den Krankenhäusern auf allgemeine Zustimmung.

Allerdings wurden in der Folge ungezählte Pflegekräfte und Ärzt*innen faktisch genötigt, auf Covid-(Intensiv-)Stationen Dienst zu verrichten: Ohne ausreichende persönliche Schutzausrüstungen und Einarbeitung, anfänglich ohne klare Behandlungsempfehlungen zu der neuartigen Krankheit und ohne wirkliche finanzielle Entschädigung, dafür mit hohem Risiko, sich anzustecken und womöglich selbst schwer krank zu werden. Für viele gebeutelte Kolleg*innen, vor allem in der Pflege, war dies eine zusätzlich frustrierende Erfahrung von Entmächtigung.

Eine weitere Maßnahme, die im Frühjahr 2020 getroffen wurde, war die Entschädigung der Krankenhäuser für Einnahmeausfälle pro freigehaltenem Bett - Gesamtkosten: 14 Milliarden Euro. Anstatt den Kliniken ihre Selbstkosten zu finanzieren, orientierten sich diese Zahlungen an Einnahmeverlusten im Vergleich zu den Vorjahren. Deshalb verbuchten am Ende vor allem Private und Freigemeinnützige »überdurchschnittliche Erlössteigerungen« (Expertenbeirat des BMG), während Maximalversorger auf Fehlbeträgen in teilweise zweistelliger Millionenhöhe sitzen blieben. Profitorientierte Klinikketten konnten sich aus öffentlichen Kassen und Solidarkassen legal bereichern.

Langfristig wird sich allerdings ein anderes Phänomen als folgenreicher erweisen, nämlich die Unterfinanzierung der Corona-Schwerpunktkliniken. Vielerorts mussten diese Kliniken ihr Personal unvermeidlich unter mitunter extremen Stress setzen, um die Versorgung aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus setzte Gesundheitsminister Jens Spahn die Pflegepersonal-Untergrenzen im Pflegedienst - eingeführt zur Vermeidung patientengefährdender Unterbesetzungen - von März bis Juli 2020 komplett, bis Januar 2021 teilweise aus. Auch überlange Arbeitszeiten wie 12-Stunden-Schichten wurden zugelassen. Parallel zu dieser Extrembelastung des gesamten Personals entstanden an vielen Krankenhäusern hohe Defizite, die zwischen und nach den Pandemiewellen einen anhaltenden Druck erzeugen: zur Kostensenkung sowie zum Hochfahren aller Leistungsbereiche, um Erlöse zu generieren.

Die Belastung der Beschäftigten in den Krankenhäusern verläuft zyklisch: Erst fortwährender ökonomischer Druck durch die Gesetzmäßigkeiten des Fallpauschalensystems, dann Unsicherheit und Versorgungskrisen während der verschiedenen Wellen der Pandemie, jetzt wieder verstärkter ökonomischer Druck. Diese Dauerkrise der Arbeitsbedingungen, das Gefangensein im Hamsterrad, die enttäuschte Hoffnung auf Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen, auf die Gelegenheit, die Patient*innen gut zu versorgen: Unter diesen Bedingungen erodieren Professionalität und Motivation des gesamten Gesundheitsfachpersonals.

Bei alldem nehmen Ärzt*innen derzeit besorgt zur Kenntnis, dass die großen privaten Krankenhausträger Helios und Sana damit beginnen, in großem Stil ärztliche Stellen zu streichen, um ihre in der Krise stabilen Gewinne noch weiter zu steigern. Veranstaltungen der regionalen Ärztekammern, das deutschlandweite DIVI-Intensivregister und persönliche Kontakte des Autors sagen das Gleiche: Die Zahl der betreibbaren Intensivbetten nimmt ab. Und solange aus dem verbliebenen Personal immer weiter das Letzte herausgeholt wird, werden Fachpflegekräfte, um sich zu schützen, unvermeidlich auf Teilzeit reduzieren oder sich gänzlich umorientieren.

Notwendigkeit von Arbeitskämpfen

»Wir haben verstanden«, war 2018 im Pflege-Sofortprogramm des Bundestages zu lesen. In der Konzertierten Aktion Pflege verpflichteten sich Deutsche Krankenhausgesellschaft, Verdi und der Deutsche Pflegerat, einen gemeinsamen Pflegepersonal-Bemessungsschlüssel zu entwerfen, der dann verbindlich eingeführt werden sollte. Das Bundesministerium hat das Ende 2019 vorgelegte Konzept »PPR 2.0« zunächst ein Jahr liegenlassen, dann lehnte Gesundheitsminister Spahn die Umsetzung mit fadenscheinigen Argumenten ab. Es ist Regierungspolitik par excellence, die Beschäftigten mit immer neuen Versprechungen und substanzloser Symbolpolitik endlos hinzuhalten.

Eine bessere Alternative als das Hoffen auf die nächste Regierung scheint die Durchsetzung von Veränderungen durch Arbeitskämpfe. Die Berliner Krankenhausbewegung hat sich mit ihrem 100-Tage-Ultimatum genau dazu auf den Weg gemacht (bravo!). Im Umgang mit der Belegungspolitik der Intensivstationen lautet die Maxime aber einstweilen noch: durchwursteln.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.